und Diplomen vergraben, und schrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf gesellschaft- liche Veranlassung, seine Merope vor die Hand nahm, und sie in weniger als zwey Monaten zu Stande brachte. Wenn dieser Mann, unter solchen Beschäftigungen, in so kurzer Zeit, ein Meisterstück gemacht hätte, so müßte er der aus- serordentlichste Kopf gewesen seyn; oder eine Tragödie überhaupt ist ein sehr geringfügiges Ding. Was indeß ein Gelehrter, von gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr für eine Erholung als für eine Arbeit ansieht, die seiner würdig wäre, leisten kann, das leistete auch er. Seine Anlage ist gesuchter und aus- gedrechselter, als glücklich; seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder nach bekannten Vorbildern in Büchern, als nach dem Leben geschildert; sein Ausdruck zeigt von mehr Phantasie, als Gefühl; der Litterator und der Versificateur läßt sich überall spüren, aber nur selten das Genie und der Dichter.
Als Versificateur läuft er den Beschreibun- gen und Gleichnissen zu sehr nach. Er hat ver- schiedene ganz vortreffliche, wahre Gemählde, die in seinem Munde nicht genug bewundert wer- den könnten; aber in dem Munde seiner Perso- nen unerträglich sind, und in die lächerlichsten Ungereimtheiten ausarten. So ist es, z. E. zwar sehr schicklich, daß Aegisth seinen Kampf
mit
und Diplomen vergraben, und ſchrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf geſellſchaft- liche Veranlaſſung, ſeine Merope vor die Hand nahm, und ſie in weniger als zwey Monaten zu Stande brachte. Wenn dieſer Mann, unter ſolchen Beſchaͤftigungen, in ſo kurzer Zeit, ein Meiſterſtuͤck gemacht haͤtte, ſo muͤßte er der auſ- ſerordentlichſte Kopf geweſen ſeyn; oder eine Tragoͤdie uͤberhaupt iſt ein ſehr geringfuͤgiges Ding. Was indeß ein Gelehrter, von gutem klaſſiſchen Geſchmacke, der ſo etwas mehr fuͤr eine Erholung als fuͤr eine Arbeit anſieht, die ſeiner wuͤrdig waͤre, leiſten kann, das leiſtete auch er. Seine Anlage iſt geſuchter und aus- gedrechſelter, als gluͤcklich; ſeine Charaktere ſind mehr nach den Zergliederungen des Moraliſten, oder nach bekannten Vorbildern in Buͤchern, als nach dem Leben geſchildert; ſein Ausdruck zeigt von mehr Phantaſie, als Gefuͤhl; der Litterator und der Verſificateur laͤßt ſich uͤberall ſpuͤren, aber nur ſelten das Genie und der Dichter.
Als Verſificateur laͤuft er den Beſchreibun- gen und Gleichniſſen zu ſehr nach. Er hat ver- ſchiedene ganz vortreffliche, wahre Gemaͤhlde, die in ſeinem Munde nicht genug bewundert wer- den koͤnnten; aber in dem Munde ſeiner Perſo- nen unertraͤglich ſind, und in die laͤcherlichſten Ungereimtheiten ausarten. So iſt es, z. E. zwar ſehr ſchicklich, daß Aegisth ſeinen Kampf
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und Diplomen vergraben, und ſchrieb wider die
Pfaffe und Basnagen, als er, auf geſellſchaft-
liche Veranlaſſung, ſeine Merope vor die Hand
nahm, und ſie in weniger als zwey Monaten zu
Stande brachte. Wenn dieſer Mann, unter
ſolchen Beſchaͤftigungen, in ſo kurzer Zeit, ein
Meiſterſtuͤck gemacht haͤtte, ſo muͤßte er der auſ-
ſerordentlichſte Kopf geweſen ſeyn; oder eine
Tragoͤdie uͤberhaupt iſt ein ſehr geringfuͤgiges
Ding. Was indeß ein Gelehrter, von gutem
klaſſiſchen Geſchmacke, der ſo etwas mehr fuͤr
eine Erholung als fuͤr eine Arbeit anſieht, die
ſeiner wuͤrdig waͤre, leiſten kann, das leiſtete
auch er. Seine Anlage iſt geſuchter und aus-
gedrechſelter, als gluͤcklich; ſeine Charaktere ſind
mehr nach den Zergliederungen des Moraliſten,
oder nach bekannten Vorbildern in Buͤchern, als
nach dem Leben geſchildert; ſein Ausdruck zeigt
von mehr Phantaſie, als Gefuͤhl; der Litterator
und der Verſificateur laͤßt ſich uͤberall ſpuͤren,
aber nur ſelten das Genie und der Dichter.
Als Verſificateur laͤuft er den Beſchreibun-
gen und Gleichniſſen zu ſehr nach. Er hat ver-
ſchiedene ganz vortreffliche, wahre Gemaͤhlde,
die in ſeinem Munde nicht genug bewundert wer-
den koͤnnten; aber in dem Munde ſeiner Perſo-
nen unertraͤglich ſind, und in die laͤcherlichſten
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/344>, abgerufen am 22.11.2024.
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