aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Feh- ler wären, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und für sich gut oder schlecht sey, sondern was die Nation dafür wolle gelten lassen. "Wie hätte ich es "wagen dürfen, fährt er mit einem tiefen Bücklinge, aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Ta- sche, gegen den Marquis fort, "bloße Nebenpersonen "so oft mit einander sprechen zu lassen, als Sie gethan "haben? Sie dienen bey Ihnen die interessanten Sce- "nen zwischen den Hauptpersonen vorzubereiten; es "sind die Zugänge zu einem schönen Pallaste; aber "unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in "diesem Pallaste befinden. Wir müssen uns also schon "nach dem Geschmacke eines Volks richten, welches "sich an Meisterstücken satt gesehen hat, u. also äußerst "verwöhnt ist." Was heißt dieses anders, als: "Mein Herr Marquis, Ihr Stück hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnütze Scenen. Aber es sey fern von mir, daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen sollte! Behüte der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weiß zu leben; ich werde niemanden etwas unangenehmes un- ter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben Sie diese kal- ten, langweiligen, unnützen Scenen mit Vorbedacht, mit allem Fleisse gemacht; weil sie gerade so sind, wie sie ihre Nation braucht. Ich wünschte, daß ich auch so wohlfeil davon kommen könnte; aber leider ist meine Nation so weit, so weit, daß ich noch viel weiter seyn muß, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation so sehr über- sieht" -- Weiter darf ich meine Paraphrasis wohl nicht fortsetzen; denn sonst, Desinit in piscem mulier formosa superne: aus der Höflichkeit wird Persifflage, (ich brauche die- ses französis. Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen) und aus der Persifflage, dummer Stolz.
Ham-
aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Feh- ler waͤren, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und fuͤr ſich gut oder ſchlecht ſey, ſondern was die Nation dafuͤr wolle gelten laſſen. 〟Wie haͤtte ich es 〟wagen duͤrfen, faͤhrt er mit einem tiefen Buͤcklinge, aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Ta- ſche, gegen den Marquis fort, 〟bloße Nebenperſonen 〟ſo oft mit einander ſprechen zu laſſen, als Sie gethan 〟haben? Sie dienen bey Ihnen die intereſſanten Sce- 〟nen zwiſchen den Hauptperſonen vorzubereiten; es 〟ſind die Zugaͤnge zu einem ſchoͤnen Pallaſte; aber 〟unſer ungeduldiges Publikum will ſich auf einmal in 〟dieſem Pallaſte befinden. Wir muͤſſen uns alſo ſchon 〟nach dem Geſchmacke eines Volks richten, welches 〟ſich an Meiſterſtuͤcken ſatt geſehen hat, u. alſo aͤußerſt 〟verwoͤhnt iſt.〟 Was heißt dieſes anders, als: 〟Mein Herr Marquis, Ihr Stuͤck hat ſehr, ſehr viel kalte, langweilige, unnuͤtze Scenen. Aber es ſey fern von mir, daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen ſollte! Behuͤte der Himmel! ich bin ein Franzoſe; ich weiß zu leben; ich werde niemanden etwas unangenehmes un- ter die Naſe reiben. Ohne Zweifel haben Sie dieſe kal- ten, langweiligen, unnuͤtzen Scenen mit Vorbedacht, mit allem Fleiſſe gemacht; weil ſie gerade ſo ſind, wie ſie ihre Nation braucht. Ich wuͤnſchte, daß ich auch ſo wohlfeil davon kommen koͤnnte; aber leider iſt meine Nation ſo weit, ſo weit, daß ich noch viel weiter ſeyn muß, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation ſo ſehr uͤber- ſieht〟 — Weiter darf ich meine Paraphraſis wohl nicht fortſetzen; denn ſonſt, Deſinit in piſcem mulier formoſa ſuperne: aus der Hoͤflichkeit wird Perſifflage, (ich brauche die- ſes franzoͤſiſ. Wort, weil wir Deutſchen von der Sache nichts wiſſen) und aus der Perſifflage, dummer Stolz.
Ham-
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aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Feh-
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an und fuͤr ſich gut oder ſchlecht ſey, ſondern was die
Nation dafuͤr wolle gelten laſſen. 〟Wie haͤtte ich es
〟wagen duͤrfen, faͤhrt er mit einem tiefen Buͤcklinge,
aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Ta-
ſche, gegen den Marquis fort, 〟bloße Nebenperſonen
〟ſo oft mit einander ſprechen zu laſſen, als Sie gethan
〟haben? Sie dienen bey Ihnen die intereſſanten Sce-
〟nen zwiſchen den Hauptperſonen vorzubereiten; es
〟ſind die Zugaͤnge zu einem ſchoͤnen Pallaſte; aber
〟unſer ungeduldiges Publikum will ſich auf einmal in
〟dieſem Pallaſte befinden. Wir muͤſſen uns alſo ſchon
〟nach dem Geſchmacke eines Volks richten, welches
〟ſich an Meiſterſtuͤcken ſatt geſehen hat, u. alſo aͤußerſt
〟verwoͤhnt iſt.〟 Was heißt dieſes anders, als: 〟Mein
Herr Marquis, Ihr Stuͤck hat ſehr, ſehr viel kalte,
langweilige, unnuͤtze Scenen. Aber es ſey fern von mir,
daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen ſollte!
Behuͤte der Himmel! ich bin ein Franzoſe; ich weiß zu
leben; ich werde niemanden etwas unangenehmes un-
ter die Naſe reiben. Ohne Zweifel haben Sie dieſe kal-
ten, langweiligen, unnuͤtzen Scenen mit Vorbedacht,
mit allem Fleiſſe gemacht; weil ſie gerade ſo ſind, wie
ſie ihre Nation braucht. Ich wuͤnſchte, daß ich auch ſo
wohlfeil davon kommen koͤnnte; aber leider iſt meine
Nation ſo weit, ſo weit, daß ich noch viel weiter ſeyn
muß, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir
darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da
jedoch meine Nation, die Ihre Nation ſo ſehr uͤber-
ſieht〟 — Weiter darf ich meine Paraphraſis wohl nicht
fortſetzen; denn ſonſt,
Deſinit in piſcem mulier formoſa ſuperne:
aus der Hoͤflichkeit wird Perſifflage, (ich brauche die-
ſes franzoͤſiſ. Wort, weil wir Deutſchen von der Sache
nichts wiſſen) und aus der Perſifflage, dummer Stolz.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/342>, abgerufen am 21.11.2024.
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