Eingebungen der gegenwärtigen Lage der Sachen scheinen.
Eben so ausgemacht ist es, daß kein falscher Accent uns muß argwöhnen lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muß uns durch den richtigsten, sichersten Ton überzeugen, daß er den ganzen Sinn seiner Worte durchdrun- gen habe.
Aber die richtige Accentuation ist zur Noth auch einem Papagey beyzubringen. Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch von dem entfernt, der sie auch zugleich empfin- det! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt, die man sich einmal ins Gedächtniß gepräget hat, lassen sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern Dingen beschäftiget; aber alsdann ist keine Empfindung möglich. Die Seele muß ganz gegenwärtig seyn; sie muß ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann --
Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben, und doch keine zu ha- ben scheinen. Die Empfindung ist überhaupt immer das streitigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann seyn, wo man sie nicht erkennet; und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht ist. Denn die Empfin- dung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen äußern Merkmalen urtheilen können.
Nun
Eingebungen der gegenwaͤrtigen Lage der Sachen ſcheinen.
Eben ſo ausgemacht iſt es, daß kein falſcher Accent uns muß argwoͤhnen laſſen, der Akteur plaudere, was er nicht verſtehe. Er muß uns durch den richtigſten, ſicherſten Ton uͤberzeugen, daß er den ganzen Sinn ſeiner Worte durchdrun- gen habe.
Aber die richtige Accentuation iſt zur Noth auch einem Papagey beyzubringen. Wie weit iſt der Akteur, der eine Stelle nur verſteht, noch von dem entfernt, der ſie auch zugleich empfin- det! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt, die man ſich einmal ins Gedaͤchtniß gepraͤget hat, laſſen ſich ſehr richtig herſagen, auch indem ſich die Seele mit ganz andern Dingen beſchaͤftiget; aber alsdann iſt keine Empfindung moͤglich. Die Seele muß ganz gegenwaͤrtig ſeyn; ſie muß ihre Aufmerkſamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann —
Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben, und doch keine zu ha- ben ſcheinen. Die Empfindung iſt uͤberhaupt immer das ſtreitigſte unter den Talenten eines Schauſpielers. Sie kann ſeyn, wo man ſie nicht erkennet; und man kann ſie zu erkennen glauben, wo ſie nicht iſt. Denn die Empfin- dung iſt etwas Inneres, von dem wir nur nach ſeinen aͤußern Merkmalen urtheilen koͤnnen.
Nun
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Eingebungen der gegenwaͤrtigen Lage der Sachen
ſcheinen.
Eben ſo ausgemacht iſt es, daß kein falſcher
Accent uns muß argwoͤhnen laſſen, der Akteur
plaudere, was er nicht verſtehe. Er muß uns
durch den richtigſten, ſicherſten Ton uͤberzeugen,
daß er den ganzen Sinn ſeiner Worte durchdrun-
gen habe.
Aber die richtige Accentuation iſt zur Noth
auch einem Papagey beyzubringen. Wie weit
iſt der Akteur, der eine Stelle nur verſteht, noch
von dem entfernt, der ſie auch zugleich empfin-
det! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt,
die man ſich einmal ins Gedaͤchtniß gepraͤget hat,
laſſen ſich ſehr richtig herſagen, auch indem ſich
die Seele mit ganz andern Dingen beſchaͤftiget;
aber alsdann iſt keine Empfindung moͤglich.
Die Seele muß ganz gegenwaͤrtig ſeyn; ſie muß
ihre Aufmerkſamkeit einzig und allein auf ihre
Reden richten, und nur alsdann —
Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich
viel Empfindung haben, und doch keine zu ha-
ben ſcheinen. Die Empfindung iſt uͤberhaupt
immer das ſtreitigſte unter den Talenten eines
Schauſpielers. Sie kann ſeyn, wo man ſie
nicht erkennet; und man kann ſie zu erkennen
glauben, wo ſie nicht iſt. Denn die Empfin-
dung iſt etwas Inneres, von dem wir nur nach
ſeinen aͤußern Merkmalen urtheilen koͤnnen.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/32>, abgerufen am 21.11.2024.
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