zu finden vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern dürfe, wenn er sich nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiß so we- nig, worinn eigentlich dieses Schrecken und die- ses Mitleid bestehet, daß er, um jenes hervor zu bringen, nicht sonderbare, unerwartete, un- glaubliche, ungeheure Dinge genug häufen zu können glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den ausserordentlichsten, gräßlichsten Unglücksfällen und Frevelthaten, nehmen zu müssen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Cleopatra, eine Mörderinn ihres Gemahls und ihrer Söhne, aufgejagt, so sieht er, um eine Tragödie daraus zu machen, weiter nichts dabey zu thun, als die Lücken zwi- schen beiden Verbrechen auszufüllen, und sie mit Dingen auszufüllen, die wenigstens eben so befremdend sind, als diese Verbrechen selbst. Alles dieses, seine Erfindungen und die histori- schen Materialien, knätet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman zusam- men; und wenn er es so gut zusammen geknätet hat, als sich nur immer Hecksel und Mehl zusam- men knäten lassen: so bringt er seinen Teig auf das Dratgerippe von Akten und Scenen, läßt erzehlen und erzehlen, läßt rasen und reimen, -- und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder saurer ankömmt, ist das
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zu finden vermeinet, welches er auf keine Weiſe vermindern duͤrfe, wenn er ſich nicht ſelbſt des ſicherſten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiß ſo we- nig, worinn eigentlich dieſes Schrecken und die- ſes Mitleid beſtehet, daß er, um jenes hervor zu bringen, nicht ſonderbare, unerwartete, un- glaubliche, ungeheure Dinge genug haͤufen zu koͤnnen glaubt, und um dieſes zu erwecken, nur immer ſeine Zuflucht zu den auſſerordentlichſten, graͤßlichſten Ungluͤcksfaͤllen und Frevelthaten, nehmen zu muͤſſen vermeinet. Kaum hat er alſo in der Geſchichte eine Cleopatra, eine Moͤrderinn ihres Gemahls und ihrer Soͤhne, aufgejagt, ſo ſieht er, um eine Tragoͤdie daraus zu machen, weiter nichts dabey zu thun, als die Luͤcken zwi- ſchen beiden Verbrechen auszufuͤllen, und ſie mit Dingen auszufuͤllen, die wenigſtens eben ſo befremdend ſind, als dieſe Verbrechen ſelbſt. Alles dieſes, ſeine Erfindungen und die hiſtori- ſchen Materialien, knaͤtet er denn in einen fein langen, fein ſchwer zu faſſenden Roman zuſam- men; und wenn er es ſo gut zuſammen geknaͤtet hat, als ſich nur immer Heckſel und Mehl zuſam- men knaͤten laſſen: ſo bringt er ſeinen Teig auf das Dratgerippe von Akten und Scenen, laͤßt erzehlen und erzehlen, laͤßt raſen und reimen, — und in vier, ſechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder ſaurer ankoͤmmt, iſt das
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zu finden vermeinet, welches er auf keine Weiſe
vermindern duͤrfe, wenn er ſich nicht ſelbſt des
ſicherſten Mittels berauben wolle, Schrecken
und Mitleid zu erregen. Denn er weiß ſo we-
nig, worinn eigentlich dieſes Schrecken und die-
ſes Mitleid beſtehet, daß er, um jenes hervor
zu bringen, nicht ſonderbare, unerwartete, un-
glaubliche, ungeheure Dinge genug haͤufen zu
koͤnnen glaubt, und um dieſes zu erwecken, nur
immer ſeine Zuflucht zu den auſſerordentlichſten,
graͤßlichſten Ungluͤcksfaͤllen und Frevelthaten,
nehmen zu muͤſſen vermeinet. Kaum hat er alſo
in der Geſchichte eine Cleopatra, eine Moͤrderinn
ihres Gemahls und ihrer Soͤhne, aufgejagt, ſo
ſieht er, um eine Tragoͤdie daraus zu machen,
weiter nichts dabey zu thun, als die Luͤcken zwi-
ſchen beiden Verbrechen auszufuͤllen, und ſie
mit Dingen auszufuͤllen, die wenigſtens eben ſo
befremdend ſind, als dieſe Verbrechen ſelbſt.
Alles dieſes, ſeine Erfindungen und die hiſtori-
ſchen Materialien, knaͤtet er denn in einen fein
langen, fein ſchwer zu faſſenden Roman zuſam-
men; und wenn er es ſo gut zuſammen geknaͤtet
hat, als ſich nur immer Heckſel und Mehl zuſam-
men knaͤten laſſen: ſo bringt er ſeinen Teig auf
das Dratgerippe von Akten und Scenen, laͤßt
erzehlen und erzehlen, laͤßt raſen und reimen, —
und in vier, ſechs Wochen, nachdem ihm das
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/267>, abgerufen am 22.11.2024.
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