hen könnte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von Seiten des Nutzens, ihrer noch nicht würdig erzeigen konnte. Thespis ersann, erdichtete, ließ die bekanntesten Personen sagen und thun, was er wollte: aber er wußte seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich, noch lehrreich zu machen. So- lon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne die geringste Vermuthung von dem Nütz- lichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu führen, leicht von übeln Folgen seyn könnte.
Ich fürchte sehr, Solon dürfte auch die Er- dichtungen des großen Corneille nichts als lei- dige Lügen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen? Machen sie in der Geschich- te, die er damit überladet, das geringste wahr- scheinlicher? Sie sind nicht einmal für sich selbst wahrscheinlich. Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der Erdich- tungskraft; und er hätte doch wohl wissen sol- len, daß nicht das bloße Erdichten, sondern das zweckmäßige Erdichten, einen schöpfrischen Geist beweise.
Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und Söhne mordet; eine solche That kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich vor, sie in einer Tragödie zu behan-
deln.
hen koͤnnte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunſt bediente ſich unter dem Theſpis ſchon aller Vorrechte, als ſie ſich, von Seiten des Nutzens, ihrer noch nicht wuͤrdig erzeigen konnte. Theſpis erſann, erdichtete, ließ die bekannteſten Perſonen ſagen und thun, was er wollte: aber er wußte ſeine Erdichtungen vielleicht weder wahrſcheinlich, noch lehrreich zu machen. So- lon bemerkte in ihnen alſo nur das Unwahre, ohne die geringſte Vermuthung von dem Nuͤtz- lichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne ſein Gegengift mit ſich zu fuͤhren, leicht von uͤbeln Folgen ſeyn koͤnnte.
Ich fuͤrchte ſehr, Solon duͤrfte auch die Er- dichtungen des großen Corneille nichts als lei- dige Luͤgen genannt haben. Denn wozu alle dieſe Erdichtungen? Machen ſie in der Geſchich- te, die er damit uͤberladet, das geringſte wahr- ſcheinlicher? Sie ſind nicht einmal fuͤr ſich ſelbſt wahrſcheinlich. Corneille prahlte damit, als mit ſehr wunderbaren Anſtrengungen der Erdich- tungskraft; und er haͤtte doch wohl wiſſen ſol- len, daß nicht das bloße Erdichten, ſondern das zweckmaͤßige Erdichten, einen ſchoͤpfriſchen Geiſt beweiſe.
Der Poet findet in der Geſchichte eine Frau, die Mann und Soͤhne mordet; eine ſolche That kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt ſich vor, ſie in einer Tragoͤdie zu behan-
deln.
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hen koͤnnte, auf eine andere Art ausweichen.
Die Kunſt bediente ſich unter dem Theſpis ſchon
aller Vorrechte, als ſie ſich, von Seiten des
Nutzens, ihrer noch nicht wuͤrdig erzeigen konnte.
Theſpis erſann, erdichtete, ließ die bekannteſten
Perſonen ſagen und thun, was er wollte: aber
er wußte ſeine Erdichtungen vielleicht weder
wahrſcheinlich, noch lehrreich zu machen. So-
lon bemerkte in ihnen alſo nur das Unwahre,
ohne die geringſte Vermuthung von dem Nuͤtz-
lichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift,
welches, ohne ſein Gegengift mit ſich zu fuͤhren,
leicht von uͤbeln Folgen ſeyn koͤnnte.
Ich fuͤrchte ſehr, Solon duͤrfte auch die Er-
dichtungen des großen Corneille nichts als lei-
dige Luͤgen genannt haben. Denn wozu alle
dieſe Erdichtungen? Machen ſie in der Geſchich-
te, die er damit uͤberladet, das geringſte wahr-
ſcheinlicher? Sie ſind nicht einmal fuͤr ſich ſelbſt
wahrſcheinlich. Corneille prahlte damit, als mit
ſehr wunderbaren Anſtrengungen der Erdich-
tungskraft; und er haͤtte doch wohl wiſſen ſol-
len, daß nicht das bloße Erdichten, ſondern das
zweckmaͤßige Erdichten, einen ſchoͤpfriſchen Geiſt
beweiſe.
Der Poet findet in der Geſchichte eine Frau,
die Mann und Soͤhne mordet; eine ſolche That
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/264>, abgerufen am 25.11.2024.
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