Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

das minder Natürliche. Die Cleopatra des
Corneille, die so eine Frau ist, die, ihren Ehr-
geitz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, sich
alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit
machiavellischen Maximen um sich wirft, ist ein
Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist
gegen ihr tugendhaft und liebenswürdig. Denn
alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht,
begeht sie aus Eifersucht. Einer zärtlichen,
eifersüchtigen Frau, will ich noch alles vergeben;
sie ist das, was sie seyn soll, nur zu heftig. Aber
gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus
überlegtem Ehrgeitze, Frevelthaten verübet, em-
pört sich das ganze Herz; und alle Kunst des
Dichters kann sie uns nicht interessant machen.
Wir staunen sie an, wie wir ein Monstrum an-
staunen; und wenn wir unsere Neugierde gesät-
tiget haben, so danken wir dem Himmel, daß
sich die Natur nur alle tausend Jahre einmal so
verirret, und ärgern uns über den Dichter,
der uns dergleichen Mißgeschöpfe für Menschen
verkaufen will, deren Kenntniß uns ersprieß-
lich seyn könnte. Man gehe die ganze Geschichte
durch; unter funfzig Frauen, die ihre Männer
vom Throne gestürzet und ermordet haben, ist
kaum eine, von der man nicht beweisen könnte,
daß nur beleidigte Liebe sie zu diesem Schritte
bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus
bloßem Stolze das Scepter selbst zu führen,

wel-

das minder Natuͤrliche. Die Cleopatra des
Corneille, die ſo eine Frau iſt, die, ihren Ehr-
geitz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, ſich
alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit
machiavelliſchen Maximen um ſich wirft, iſt ein
Ungeheuer ihres Geſchlechts, und Medea iſt
gegen ihr tugendhaft und liebenswuͤrdig. Denn
alle die Grauſamkeiten, welche Medea begeht,
begeht ſie aus Eiferſucht. Einer zaͤrtlichen,
eiferſuͤchtigen Frau, will ich noch alles vergeben;
ſie iſt das, was ſie ſeyn ſoll, nur zu heftig. Aber
gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus
uͤberlegtem Ehrgeitze, Frevelthaten veruͤbet, em-
poͤrt ſich das ganze Herz; und alle Kunſt des
Dichters kann ſie uns nicht intereſſant machen.
Wir ſtaunen ſie an, wie wir ein Monſtrum an-
ſtaunen; und wenn wir unſere Neugierde geſaͤt-
tiget haben, ſo danken wir dem Himmel, daß
ſich die Natur nur alle tauſend Jahre einmal ſo
verirret, und aͤrgern uns uͤber den Dichter,
der uns dergleichen Mißgeſchoͤpfe fuͤr Menſchen
verkaufen will, deren Kenntniß uns erſprieß-
lich ſeyn koͤnnte. Man gehe die ganze Geſchichte
durch; unter funfzig Frauen, die ihre Maͤnner
vom Throne geſtuͤrzet und ermordet haben, iſt
kaum eine, von der man nicht beweiſen koͤnnte,
daß nur beleidigte Liebe ſie zu dieſem Schritte
bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus
bloßem Stolze das Scepter ſelbſt zu fuͤhren,

wel-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0252" n="238"/>
das minder Natu&#x0364;rliche. Die Cleopatra des<lb/>
Corneille, die &#x017F;o eine Frau i&#x017F;t, die, ihren Ehr-<lb/>
geitz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, &#x017F;ich<lb/>
alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit<lb/>
machiavelli&#x017F;chen Maximen um &#x017F;ich wirft, i&#x017F;t ein<lb/>
Ungeheuer ihres Ge&#x017F;chlechts, und Medea i&#x017F;t<lb/>
gegen ihr tugendhaft und liebenswu&#x0364;rdig. Denn<lb/>
alle die Grau&#x017F;amkeiten, welche Medea begeht,<lb/>
begeht &#x017F;ie aus Eifer&#x017F;ucht. Einer za&#x0364;rtlichen,<lb/>
eifer&#x017F;u&#x0364;chtigen Frau, will ich noch alles vergeben;<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t das, was &#x017F;ie &#x017F;eyn &#x017F;oll, nur zu heftig. Aber<lb/>
gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus<lb/>
u&#x0364;berlegtem Ehrgeitze, Frevelthaten veru&#x0364;bet, em-<lb/>
po&#x0364;rt &#x017F;ich das ganze Herz; und alle Kun&#x017F;t des<lb/>
Dichters kann &#x017F;ie uns nicht intere&#x017F;&#x017F;ant machen.<lb/>
Wir &#x017F;taunen &#x017F;ie an, wie wir ein Mon&#x017F;trum an-<lb/>
&#x017F;taunen; und wenn wir un&#x017F;ere Neugierde ge&#x017F;a&#x0364;t-<lb/>
tiget haben, &#x017F;o danken wir dem Himmel, daß<lb/>
&#x017F;ich die Natur nur alle tau&#x017F;end Jahre einmal &#x017F;o<lb/>
verirret, und a&#x0364;rgern uns u&#x0364;ber den Dichter,<lb/>
der uns dergleichen Mißge&#x017F;cho&#x0364;pfe fu&#x0364;r Men&#x017F;chen<lb/>
verkaufen will, deren Kenntniß uns er&#x017F;prieß-<lb/>
lich &#x017F;eyn ko&#x0364;nnte. Man gehe die ganze Ge&#x017F;chichte<lb/>
durch; unter funfzig Frauen, die ihre Ma&#x0364;nner<lb/>
vom Throne ge&#x017F;tu&#x0364;rzet und ermordet haben, i&#x017F;t<lb/>
kaum eine, von der man nicht bewei&#x017F;en ko&#x0364;nnte,<lb/>
daß nur beleidigte Liebe &#x017F;ie zu die&#x017F;em Schritte<lb/>
bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus<lb/>
bloßem Stolze das Scepter &#x017F;elb&#x017F;t zu fu&#x0364;hren,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wel-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0252] das minder Natuͤrliche. Die Cleopatra des Corneille, die ſo eine Frau iſt, die, ihren Ehr- geitz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, ſich alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit machiavelliſchen Maximen um ſich wirft, iſt ein Ungeheuer ihres Geſchlechts, und Medea iſt gegen ihr tugendhaft und liebenswuͤrdig. Denn alle die Grauſamkeiten, welche Medea begeht, begeht ſie aus Eiferſucht. Einer zaͤrtlichen, eiferſuͤchtigen Frau, will ich noch alles vergeben; ſie iſt das, was ſie ſeyn ſoll, nur zu heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus uͤberlegtem Ehrgeitze, Frevelthaten veruͤbet, em- poͤrt ſich das ganze Herz; und alle Kunſt des Dichters kann ſie uns nicht intereſſant machen. Wir ſtaunen ſie an, wie wir ein Monſtrum an- ſtaunen; und wenn wir unſere Neugierde geſaͤt- tiget haben, ſo danken wir dem Himmel, daß ſich die Natur nur alle tauſend Jahre einmal ſo verirret, und aͤrgern uns uͤber den Dichter, der uns dergleichen Mißgeſchoͤpfe fuͤr Menſchen verkaufen will, deren Kenntniß uns erſprieß- lich ſeyn koͤnnte. Man gehe die ganze Geſchichte durch; unter funfzig Frauen, die ihre Maͤnner vom Throne geſtuͤrzet und ermordet haben, iſt kaum eine, von der man nicht beweiſen koͤnnte, daß nur beleidigte Liebe ſie zu dieſem Schritte bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus bloßem Stolze das Scepter ſelbſt zu fuͤhren, wel-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/252
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/252>, abgerufen am 22.11.2024.