chen rächet das andere; und es kömmt bloß auf die Umstände an, auf welcher Seite wir mehr Verabscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen.
Dieser dreyfache Mord würde nur eine Hand- lung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der nehmlichen Leidenschaft der nehmlichen Person hätte. Was fehlt ihr also noch zum Stoffe einer Tragödie? Für das Genie fehlt ihr nichts: für den Stümper, alles. Da ist keine Liebe, da ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwischenfall; alles geht seinen natürlichen Gang. Dieser natürliche Gang reitzet das Genie; und den Stümper schrecket er ab. Das Genie kön- nen nur Begebenheiten beschäftigen, die in ein- ander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurück zu füh- ren, jene gegen diese abzuwägen, überall das Ungefehr auszuschliessen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, daß es nicht anders ge- schehen können: das, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnützen Schätze des Gedächtnisses in Nahrun- gen des Geistes zu verwandeln. Der Witz hin- gegen, als der nicht auf das in einander Gegrün- dete, sondern nur auf das Aehnliche oder Un- ähnliche gehet, wenn er sich an Werke waget,
die
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chen raͤchet das andere; und es koͤmmt bloß auf die Umſtaͤnde an, auf welcher Seite wir mehr Verabſcheuung, oder mehr Mitleid empfinden ſollen.
Dieſer dreyfache Mord wuͤrde nur eine Hand- lung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der nehmlichen Leidenſchaft der nehmlichen Perſon haͤtte. Was fehlt ihr alſo noch zum Stoffe einer Tragoͤdie? Fuͤr das Genie fehlt ihr nichts: fuͤr den Stuͤmper, alles. Da iſt keine Liebe, da iſt keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwiſchenfall; alles geht ſeinen natuͤrlichen Gang. Dieſer natuͤrliche Gang reitzet das Genie; und den Stuͤmper ſchrecket er ab. Das Genie koͤn- nen nur Begebenheiten beſchaͤftigen, die in ein- ander gegruͤndet ſind, nur Ketten von Urſachen und Wirkungen. Dieſe auf jene zuruͤck zu fuͤh- ren, jene gegen dieſe abzuwaͤgen, uͤberall das Ungefehr auszuſchlieſſen, alles, was geſchieht, ſo geſchehen zu laſſen, daß es nicht anders ge- ſchehen koͤnnen: das, das iſt ſeine Sache, wenn es in dem Felde der Geſchichte arbeitet, um die unnuͤtzen Schaͤtze des Gedaͤchtniſſes in Nahrun- gen des Geiſtes zu verwandeln. Der Witz hin- gegen, als der nicht auf das in einander Gegruͤn- dete, ſondern nur auf das Aehnliche oder Un- aͤhnliche gehet, wenn er ſich an Werke waget,
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chen raͤchet das andere; und es koͤmmt bloß auf
die Umſtaͤnde an, auf welcher Seite wir mehr
Verabſcheuung, oder mehr Mitleid empfinden
ſollen.
Dieſer dreyfache Mord wuͤrde nur eine Hand-
lung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel
und ihr Ende in der nehmlichen Leidenſchaft der
nehmlichen Perſon haͤtte. Was fehlt ihr alſo noch
zum Stoffe einer Tragoͤdie? Fuͤr das Genie
fehlt ihr nichts: fuͤr den Stuͤmper, alles. Da
iſt keine Liebe, da iſt keine Verwicklung, keine
Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer
Zwiſchenfall; alles geht ſeinen natuͤrlichen Gang.
Dieſer natuͤrliche Gang reitzet das Genie; und
den Stuͤmper ſchrecket er ab. Das Genie koͤn-
nen nur Begebenheiten beſchaͤftigen, die in ein-
ander gegruͤndet ſind, nur Ketten von Urſachen
und Wirkungen. Dieſe auf jene zuruͤck zu fuͤh-
ren, jene gegen dieſe abzuwaͤgen, uͤberall das
Ungefehr auszuſchlieſſen, alles, was geſchieht,
ſo geſchehen zu laſſen, daß es nicht anders ge-
ſchehen koͤnnen: das, das iſt ſeine Sache, wenn
es in dem Felde der Geſchichte arbeitet, um die
unnuͤtzen Schaͤtze des Gedaͤchtniſſes in Nahrun-
gen des Geiſtes zu verwandeln. Der Witz hin-
gegen, als der nicht auf das in einander Gegruͤn-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/249>, abgerufen am 23.11.2024.
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