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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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auch der Musikus? Es sey, daß er es in Einem
Stücke, von der erforderlichen Länge, eben so
wohl thun könne; aber in zwey besondern, von
einander gänzlich abgesetzten Stücken, muß der
Sprung, z. E. aus dem Ruhigen in das Stür-
mische, aus dem Zärtlichen in das Grausame,
nothwendig sehr merklich seyn, und alle das
Beleidigende haben, was in der Natur jeder
plötzliche Uebergang aus einem Aeußersten in
das andere, aus der Finsterniß in das Licht, aus
der Kälte in die Hitze, zu haben pflegt. Itzt
zerschmelzen wir in Wehmuth, und auf einmal
sollen wir rasen. Wie? warum? wider wen?
wider eben den, für den unsere Seele ganz mit-
leidiges Gefühl war? oder wider einen andern?
Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie
läßt uns in Ungewißheit und Verwirrung; wir
empfinden, ohne eine richtige Folge unserer Em-
pfindungen wahrzunehmen; wir empfinden, wie
im Traume; und alle diese unordentliche Em-
pfindungen sind mehr abmattend, als ergötzend.
Die Poesie hingegen läßt uns den Faden unserer
Empfindungen nie verlieren; hier wissen wir
nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern
auch, warum wir es empfinden sollen; und nur
dieses Warum macht die plötzlichsten Uebergänge
nicht allein erträglich, sondern auch angenehm.
In der That ist diese Motivirung der plötzli-
chen Uebergänge einer der größten Vortheile,

den

auch der Muſikus? Es ſey, daß er es in Einem
Stuͤcke, von der erforderlichen Laͤnge, eben ſo
wohl thun koͤnne; aber in zwey beſondern, von
einander gaͤnzlich abgeſetzten Stuͤcken, muß der
Sprung, z. E. aus dem Ruhigen in das Stuͤr-
miſche, aus dem Zaͤrtlichen in das Grauſame,
nothwendig ſehr merklich ſeyn, und alle das
Beleidigende haben, was in der Natur jeder
ploͤtzliche Uebergang aus einem Aeußerſten in
das andere, aus der Finſterniß in das Licht, aus
der Kaͤlte in die Hitze, zu haben pflegt. Itzt
zerſchmelzen wir in Wehmuth, und auf einmal
ſollen wir raſen. Wie? warum? wider wen?
wider eben den, fuͤr den unſere Seele ganz mit-
leidiges Gefuͤhl war? oder wider einen andern?
Alles das kann die Muſik nicht beſtimmen; ſie
laͤßt uns in Ungewißheit und Verwirrung; wir
empfinden, ohne eine richtige Folge unſerer Em-
pfindungen wahrzunehmen; wir empfinden, wie
im Traume; und alle dieſe unordentliche Em-
pfindungen ſind mehr abmattend, als ergoͤtzend.
Die Poeſie hingegen laͤßt uns den Faden unſerer
Empfindungen nie verlieren; hier wiſſen wir
nicht allein, was wir empfinden ſollen, ſondern
auch, warum wir es empfinden ſollen; und nur
dieſes Warum macht die ploͤtzlichſten Uebergaͤnge
nicht allein ertraͤglich, ſondern auch angenehm.
In der That iſt dieſe Motivirung der ploͤtzli-
chen Uebergaͤnge einer der groͤßten Vortheile,

den
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[212/0226] auch der Muſikus? Es ſey, daß er es in Einem Stuͤcke, von der erforderlichen Laͤnge, eben ſo wohl thun koͤnne; aber in zwey beſondern, von einander gaͤnzlich abgeſetzten Stuͤcken, muß der Sprung, z. E. aus dem Ruhigen in das Stuͤr- miſche, aus dem Zaͤrtlichen in das Grauſame, nothwendig ſehr merklich ſeyn, und alle das Beleidigende haben, was in der Natur jeder ploͤtzliche Uebergang aus einem Aeußerſten in das andere, aus der Finſterniß in das Licht, aus der Kaͤlte in die Hitze, zu haben pflegt. Itzt zerſchmelzen wir in Wehmuth, und auf einmal ſollen wir raſen. Wie? warum? wider wen? wider eben den, fuͤr den unſere Seele ganz mit- leidiges Gefuͤhl war? oder wider einen andern? Alles das kann die Muſik nicht beſtimmen; ſie laͤßt uns in Ungewißheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge unſerer Em- pfindungen wahrzunehmen; wir empfinden, wie im Traume; und alle dieſe unordentliche Em- pfindungen ſind mehr abmattend, als ergoͤtzend. Die Poeſie hingegen laͤßt uns den Faden unſerer Empfindungen nie verlieren; hier wiſſen wir nicht allein, was wir empfinden ſollen, ſondern auch, warum wir es empfinden ſollen; und nur dieſes Warum macht die ploͤtzlichſten Uebergaͤnge nicht allein ertraͤglich, ſondern auch angenehm. In der That iſt dieſe Motivirung der ploͤtzli- chen Uebergaͤnge einer der groͤßten Vortheile, den

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/226>, abgerufen am 24.11.2024.