viel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein Essex ist ein verdienter und großer, aber stolzer und unbiegsamer Mann. Eurer war in der That weder so groß, noch so unbiegsam: desto schlimmer für ihn. Genug für mich, daß er doch immer noch groß und unbiegsam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe seinen Namen zu lassen."
Kurz: die Tragödie ist keine dialogirte Ge- schichte; die Geschichte ist für die Tragödie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir gewisse Charaktere zu verbinden ge- wohnt sind. Findet der Dichter in der Ge- schichte mehrere Umstände zur Ausschmückung und Individualisirung seines Stoffes bequem: wohl, so brauche er sie. Nur daß man ihm hier- aus eben so wenig ein Verdienst, als aus dem Gegentheile ein Verbrechen mache!
Diesen Punkt von der historischen Wahrheit abgerechnet, bin ich sehr bereit, das übrige Ur- theil des Herrn von Voltaire zu unterschreiben. Essex ist ein mittelmäßiges Stück, sowohl in Ansehung der Intrigue, als des Stils. Den Grafen zu einem seufzenden Liebhaber einer Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung, daß er der ihrige nicht seyn kann, als aus edel- müthigem Stolze, sich nicht zu Entschuldigun- gen und Bitten herab zu lassen, auf das Schaf- fot zu führen: das war der unglücklichste Ein-
fall,
viel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein Eſſex iſt ein verdienter und großer, aber ſtolzer und unbiegſamer Mann. Eurer war in der That weder ſo groß, noch ſo unbiegſam: deſto ſchlimmer fuͤr ihn. Genug fuͤr mich, daß er doch immer noch groß und unbiegſam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe ſeinen Namen zu laſſen.〟
Kurz: die Tragoͤdie iſt keine dialogirte Ge- ſchichte; die Geſchichte iſt fuͤr die Tragoͤdie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir gewiſſe Charaktere zu verbinden ge- wohnt ſind. Findet der Dichter in der Ge- ſchichte mehrere Umſtaͤnde zur Ausſchmuͤckung und Individualiſirung ſeines Stoffes bequem: wohl, ſo brauche er ſie. Nur daß man ihm hier- aus eben ſo wenig ein Verdienſt, als aus dem Gegentheile ein Verbrechen mache!
Dieſen Punkt von der hiſtoriſchen Wahrheit abgerechnet, bin ich ſehr bereit, das uͤbrige Ur- theil des Herrn von Voltaire zu unterſchreiben. Eſſex iſt ein mittelmaͤßiges Stuͤck, ſowohl in Anſehung der Intrigue, als des Stils. Den Grafen zu einem ſeufzenden Liebhaber einer Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung, daß er der ihrige nicht ſeyn kann, als aus edel- muͤthigem Stolze, ſich nicht zu Entſchuldigun- gen und Bitten herab zu laſſen, auf das Schaf- fot zu fuͤhren: das war der ungluͤcklichſte Ein-
fall,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0202"n="188"/>
viel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein<lb/>
Eſſex iſt ein verdienter und großer, aber ſtolzer<lb/>
und unbiegſamer Mann. Eurer war in der<lb/>
That weder ſo groß, noch ſo unbiegſam: deſto<lb/>ſchlimmer fuͤr ihn. Genug fuͤr mich, daß er<lb/>
doch immer noch groß und unbiegſam genug<lb/>
war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe<lb/>ſeinen Namen zu laſſen.〟</p><lb/><p>Kurz: die Tragoͤdie iſt keine dialogirte Ge-<lb/>ſchichte; die Geſchichte iſt fuͤr die Tragoͤdie<lb/>
nichts, als ein Repertorium von Namen, mit<lb/>
denen wir gewiſſe Charaktere zu verbinden ge-<lb/>
wohnt ſind. Findet der Dichter in der Ge-<lb/>ſchichte mehrere Umſtaͤnde zur Ausſchmuͤckung<lb/>
und Individualiſirung ſeines Stoffes bequem:<lb/>
wohl, ſo brauche er ſie. Nur daß man ihm hier-<lb/>
aus eben ſo wenig ein Verdienſt, als aus dem<lb/>
Gegentheile ein Verbrechen mache!</p><lb/><p>Dieſen Punkt von der hiſtoriſchen Wahrheit<lb/>
abgerechnet, bin ich ſehr bereit, das uͤbrige Ur-<lb/>
theil des Herrn von Voltaire zu unterſchreiben.<lb/>
Eſſex iſt ein mittelmaͤßiges Stuͤck, ſowohl in<lb/>
Anſehung der Intrigue, als des Stils. Den<lb/>
Grafen zu einem ſeufzenden Liebhaber einer<lb/>
Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung,<lb/>
daß er der ihrige nicht ſeyn kann, als aus edel-<lb/>
muͤthigem Stolze, ſich nicht zu Entſchuldigun-<lb/>
gen und Bitten herab zu laſſen, auf das Schaf-<lb/>
fot zu fuͤhren: das war der ungluͤcklichſte Ein-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">fall,</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[188/0202]
viel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein
Eſſex iſt ein verdienter und großer, aber ſtolzer
und unbiegſamer Mann. Eurer war in der
That weder ſo groß, noch ſo unbiegſam: deſto
ſchlimmer fuͤr ihn. Genug fuͤr mich, daß er
doch immer noch groß und unbiegſam genug
war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe
ſeinen Namen zu laſſen.〟
Kurz: die Tragoͤdie iſt keine dialogirte Ge-
ſchichte; die Geſchichte iſt fuͤr die Tragoͤdie
nichts, als ein Repertorium von Namen, mit
denen wir gewiſſe Charaktere zu verbinden ge-
wohnt ſind. Findet der Dichter in der Ge-
ſchichte mehrere Umſtaͤnde zur Ausſchmuͤckung
und Individualiſirung ſeines Stoffes bequem:
wohl, ſo brauche er ſie. Nur daß man ihm hier-
aus eben ſo wenig ein Verdienſt, als aus dem
Gegentheile ein Verbrechen mache!
Dieſen Punkt von der hiſtoriſchen Wahrheit
abgerechnet, bin ich ſehr bereit, das uͤbrige Ur-
theil des Herrn von Voltaire zu unterſchreiben.
Eſſex iſt ein mittelmaͤßiges Stuͤck, ſowohl in
Anſehung der Intrigue, als des Stils. Den
Grafen zu einem ſeufzenden Liebhaber einer
Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung,
daß er der ihrige nicht ſeyn kann, als aus edel-
muͤthigem Stolze, ſich nicht zu Entſchuldigun-
gen und Bitten herab zu laſſen, auf das Schaf-
fot zu fuͤhren: das war der ungluͤcklichſte Ein-
fall,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/202>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.