legen zu lassen: heißt ihn und seinen Beruff ver- kennen, heißt von dem, dem man diese Verken- nung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, chicaniren.
Zwar bey dem Herrn von Voltaire könnte es leicht weder Verkennung noch Chicane seyn. Denn Voltaire ist selbst ein tragischer Dichter, und ohnstreitig ein weit größerer, als der jüngere Corneille. Es wäre denn, daß man ein Mei- ster in einer Kunst seyn, und doch falsche Begriffe von der Kunst haben könnte. Und was die Chi- cane anbelangt, die ist, wie die ganze Welt weiß, sein Werk nun gar nicht. Was ihr in seinen Schriften hier und da ähnlich sieht, ist nichts als Laune; aus bloßer Laune spielt er dann und wann in der Poetik den Historikus, in der Historie den Philosophen, und in der Phi- losophie den witzigen Kopf.
Sollte er umsonst wissen, daß Elisabeth acht und sechzig Jahr alt war, als sie den Grafen köpfen ließ? Im acht und sechzigsten Jahre noch verliebt, noch eifersüchtig! Die große Nase der Elisabeth dazu genommen, was für lustige Ein- fälle muß das geben! Freylich stehen diese lusti- gen Einfälle in dem Commentare über eine Tra- gödie; also da, wo sie nicht hingehören. Der Dichter hätte Recht zu seinem Commentator zu sagen: "Mein Herr Notenmacher, diese Schwänke gehören in eure allgemeine Geschichte, nicht un-
ter
legen zu laſſen: heißt ihn und ſeinen Beruff ver- kennen, heißt von dem, dem man dieſe Verken- nung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, chicaniren.
Zwar bey dem Herrn von Voltaire koͤnnte es leicht weder Verkennung noch Chicane ſeyn. Denn Voltaire iſt ſelbſt ein tragiſcher Dichter, und ohnſtreitig ein weit groͤßerer, als der juͤngere Corneille. Es waͤre denn, daß man ein Mei- ſter in einer Kunſt ſeyn, und doch falſche Begriffe von der Kunſt haben koͤnnte. Und was die Chi- cane anbelangt, die iſt, wie die ganze Welt weiß, ſein Werk nun gar nicht. Was ihr in ſeinen Schriften hier und da aͤhnlich ſieht, iſt nichts als Laune; aus bloßer Laune ſpielt er dann und wann in der Poetik den Hiſtorikus, in der Hiſtorie den Philoſophen, und in der Phi- loſophie den witzigen Kopf.
Sollte er umſonſt wiſſen, daß Eliſabeth acht und ſechzig Jahr alt war, als ſie den Grafen koͤpfen ließ? Im acht und ſechzigſten Jahre noch verliebt, noch eiferſuͤchtig! Die große Naſe der Eliſabeth dazu genommen, was fuͤr luſtige Ein- faͤlle muß das geben! Freylich ſtehen dieſe luſti- gen Einfaͤlle in dem Commentare uͤber eine Tra- goͤdie; alſo da, wo ſie nicht hingehoͤren. Der Dichter haͤtte Recht zu ſeinem Commentator zu ſagen: 〟Mein Herr Notenmacher, dieſe Schwaͤnke gehoͤren in eure allgemeine Geſchichte, nicht un-
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legen zu laſſen: heißt ihn und ſeinen Beruff ver-
kennen, heißt von dem, dem man dieſe Verken-
nung nicht zutrauen kann, mit einem Worte,
chicaniren.
Zwar bey dem Herrn von Voltaire koͤnnte es
leicht weder Verkennung noch Chicane ſeyn.
Denn Voltaire iſt ſelbſt ein tragiſcher Dichter,
und ohnſtreitig ein weit groͤßerer, als der juͤngere
Corneille. Es waͤre denn, daß man ein Mei-
ſter in einer Kunſt ſeyn, und doch falſche Begriffe
von der Kunſt haben koͤnnte. Und was die Chi-
cane anbelangt, die iſt, wie die ganze Welt
weiß, ſein Werk nun gar nicht. Was ihr in
ſeinen Schriften hier und da aͤhnlich ſieht, iſt
nichts als Laune; aus bloßer Laune ſpielt er
dann und wann in der Poetik den Hiſtorikus,
in der Hiſtorie den Philoſophen, und in der Phi-
loſophie den witzigen Kopf.
Sollte er umſonſt wiſſen, daß Eliſabeth acht
und ſechzig Jahr alt war, als ſie den Grafen
koͤpfen ließ? Im acht und ſechzigſten Jahre noch
verliebt, noch eiferſuͤchtig! Die große Naſe der
Eliſabeth dazu genommen, was fuͤr luſtige Ein-
faͤlle muß das geben! Freylich ſtehen dieſe luſti-
gen Einfaͤlle in dem Commentare uͤber eine Tra-
goͤdie; alſo da, wo ſie nicht hingehoͤren. Der
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/200>, abgerufen am 24.11.2024.
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