Tasso scheinet, in seinem Olint und Sophronia, den Virgil, in seinem Nisus und Euryalus, vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die Stärke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die Stärke der Liebe schildern. Dort war es heldenmüthiger Dienst- eifer, der die Probe der Freundschaft veran- laßte: hier ist es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit giebt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bey dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieser, in den Triumph jener veredeln. Gewiß, eine fromme Verbesserung -- weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn ver- leitet, was bey dem Tasso so simpel und natür- lich, so wahr und menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch zu machen, daß nichts darüber!
Beym Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen Aber- glauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rath giebt, das wunderthätige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester?
Wenn
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Taſſo ſcheinet, in ſeinem Olint und Sophronia, den Virgil, in ſeinem Niſus und Euryalus, vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in dieſen die Staͤrke der Freundſchaft geſchildert hatte, wollte Taſſo in jenen die Staͤrke der Liebe ſchildern. Dort war es heldenmuͤthiger Dienſt- eifer, der die Probe der Freundſchaft veran- laßte: hier iſt es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit giebt, ſich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bey dem Taſſo nur das Mittel iſt, wodurch er die Liebe ſo wirkſam zeiget, iſt in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieſer, in den Triumph jener veredeln. Gewiß, eine fromme Verbeſſerung — weiter aber auch nichts, als fromm! Denn ſie hat ihn ver- leitet, was bey dem Taſſo ſo ſimpel und natuͤr- lich, ſo wahr und menſchlich iſt, ſo verwickelt und romanenhaft, ſo wunderbar und himmliſch zu machen, daß nichts daruͤber!
Beym Taſſo iſt es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Chriſt noch Mahomedaner iſt, ſondern ſich aus beiden Religionen einen eigenen Aber- glauben zuſammengeſponnen hat, welcher dem Aladin den Rath giebt, das wunderthaͤtige Marienbild aus dem Tempel in die Moſchee zu bringen. Warum machte Cronegk aus dieſem Zauberer einen mahomedaniſchen Prieſter?
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Taſſo ſcheinet, in ſeinem Olint und Sophronia,
den Virgil, in ſeinem Niſus und Euryalus, vor
Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in
dieſen die Staͤrke der Freundſchaft geſchildert
hatte, wollte Taſſo in jenen die Staͤrke der Liebe
ſchildern. Dort war es heldenmuͤthiger Dienſt-
eifer, der die Probe der Freundſchaft veran-
laßte: hier iſt es die Religion, welche der Liebe
Gelegenheit giebt, ſich in aller ihrer Kraft zu
zeigen. Aber die Religion, welche bey dem
Taſſo nur das Mittel iſt, wodurch er die Liebe
ſo wirkſam zeiget, iſt in Cronegks Bearbeitung
das Hauptwerk geworden. Er wollte den
Triumph dieſer, in den Triumph jener veredeln.
Gewiß, eine fromme Verbeſſerung — weiter aber
auch nichts, als fromm! Denn ſie hat ihn ver-
leitet, was bey dem Taſſo ſo ſimpel und natuͤr-
lich, ſo wahr und menſchlich iſt, ſo verwickelt
und romanenhaft, ſo wunderbar und himmliſch
zu machen, daß nichts daruͤber!
Beym Taſſo iſt es ein Zauberer, ein Kerl,
der weder Chriſt noch Mahomedaner iſt, ſondern
ſich aus beiden Religionen einen eigenen Aber-
glauben zuſammengeſponnen hat, welcher dem
Aladin den Rath giebt, das wunderthaͤtige
Marienbild aus dem Tempel in die Moſchee zu
bringen. Warum machte Cronegk aus dieſem
Zauberer einen mahomedaniſchen Prieſter?
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/17>, abgerufen am 24.11.2024.
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