Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite
Hamburgische
Dramaturgie.


Neunzehntes Stück.





Es ist einem jeden vergönnt, seinen eigenen
Geschmack zu haben; und es ist rühmlich,
sich von seinem eigenen Geschmacke Rechen-
schaft zu geben suchen. Aber den Gründen,
durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allge-
meinheit ertheilen, die, wenn es seine Richtig-
keit damit hätte, ihn zu dem einzigen wahren
Geschmacke machen müßte, heißt aus den Gren-
zen des forschenden Liebhabers herausgehen, und
sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwer-
fen. Der angeführte französische Schriftsteller
fängt mit einem bescheidenen, "Uns wäre lieber
gewesen"
an, und geht zu so allgemein verbin-
denden Aussprüchen fort, daß man glauben
sollte, dieses Uns sey aus dem Munde der Kritik
selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter fol-
gert keine Regeln aus seinem Geschmacke, son-
dern hat seinen Geschmack nach den Regeln

ge-
T
Hamburgiſche
Dramaturgie.


Neunzehntes Stuͤck.





Es iſt einem jeden vergoͤnnt, ſeinen eigenen
Geſchmack zu haben; und es iſt ruͤhmlich,
ſich von ſeinem eigenen Geſchmacke Rechen-
ſchaft zu geben ſuchen. Aber den Gruͤnden,
durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allge-
meinheit ertheilen, die, wenn es ſeine Richtig-
keit damit haͤtte, ihn zu dem einzigen wahren
Geſchmacke machen muͤßte, heißt aus den Gren-
zen des forſchenden Liebhabers herausgehen, und
ſich zu einem eigenſinnigen Geſetzgeber aufwer-
fen. Der angefuͤhrte franzoͤſiſche Schriftſteller
faͤngt mit einem beſcheidenen, „Uns waͤre lieber
geweſen„
an, und geht zu ſo allgemein verbin-
denden Ausſpruͤchen fort, daß man glauben
ſollte, dieſes Uns ſey aus dem Munde der Kritik
ſelbſt gekommen. Der wahre Kunſtrichter fol-
gert keine Regeln aus ſeinem Geſchmacke, ſon-
dern hat ſeinen Geſchmack nach den Regeln

ge-
T
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0159" n="[145]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Hamburgi&#x017F;che<lb/><hi rendition="#g">Dramaturgie.</hi><lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Neunzehntes Stu&#x0364;ck.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#c">Den 3ten Julius, 1767.</hi> </dateline><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p><hi rendition="#in">E</hi>s i&#x017F;t einem jeden vergo&#x0364;nnt, &#x017F;einen eigenen<lb/>
Ge&#x017F;chmack zu haben; und es i&#x017F;t ru&#x0364;hmlich,<lb/>
&#x017F;ich von &#x017F;einem eigenen Ge&#x017F;chmacke Rechen-<lb/>
&#x017F;chaft zu geben &#x017F;uchen. Aber den Gru&#x0364;nden,<lb/>
durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allge-<lb/>
meinheit ertheilen, die, wenn es &#x017F;eine Richtig-<lb/>
keit damit ha&#x0364;tte, ihn zu dem einzigen wahren<lb/>
Ge&#x017F;chmacke machen mu&#x0364;ßte, heißt aus den Gren-<lb/>
zen des for&#x017F;chenden Liebhabers herausgehen, und<lb/>
&#x017F;ich zu einem eigen&#x017F;innigen Ge&#x017F;etzgeber aufwer-<lb/>
fen. Der angefu&#x0364;hrte franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che Schrift&#x017F;teller<lb/>
fa&#x0364;ngt mit einem be&#x017F;cheidenen, <cit><quote>&#x201E;Uns wa&#x0364;re lieber<lb/>
gewe&#x017F;en&#x201E;</quote></cit> an, und geht zu &#x017F;o allgemein verbin-<lb/>
denden Aus&#x017F;pru&#x0364;chen fort, daß man glauben<lb/>
&#x017F;ollte, die&#x017F;es Uns &#x017F;ey aus dem Munde der Kritik<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t gekommen. Der wahre Kun&#x017F;trichter fol-<lb/>
gert keine Regeln aus &#x017F;einem Ge&#x017F;chmacke, &#x017F;on-<lb/>
dern hat &#x017F;einen Ge&#x017F;chmack nach den Regeln<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">T</fw><fw place="bottom" type="catch">ge-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[145]/0159] Hamburgiſche Dramaturgie. Neunzehntes Stuͤck. Den 3ten Julius, 1767. Es iſt einem jeden vergoͤnnt, ſeinen eigenen Geſchmack zu haben; und es iſt ruͤhmlich, ſich von ſeinem eigenen Geſchmacke Rechen- ſchaft zu geben ſuchen. Aber den Gruͤnden, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allge- meinheit ertheilen, die, wenn es ſeine Richtig- keit damit haͤtte, ihn zu dem einzigen wahren Geſchmacke machen muͤßte, heißt aus den Gren- zen des forſchenden Liebhabers herausgehen, und ſich zu einem eigenſinnigen Geſetzgeber aufwer- fen. Der angefuͤhrte franzoͤſiſche Schriftſteller faͤngt mit einem beſcheidenen, „Uns waͤre lieber geweſen„ an, und geht zu ſo allgemein verbin- denden Ausſpruͤchen fort, daß man glauben ſollte, dieſes Uns ſey aus dem Munde der Kritik ſelbſt gekommen. Der wahre Kunſtrichter fol- gert keine Regeln aus ſeinem Geſchmacke, ſon- dern hat ſeinen Geſchmack nach den Regeln ge- T

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/159
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. [145]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/159>, abgerufen am 22.11.2024.