Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
Theilung in die nordeuropäische Grundsprache und in die arische Grundsprache
aufgelöst hätte, wollte man dies voraussetzen, so käme man wieder in Collision
mit den Eingangs (S. 2 f.) festgestellten gemeinsamen europäischen Eigenthüm-
lichkeiten, welche eine solche Annahme unmöglich machen. Man mag sich also
drehen und wenden, wie man will, so lange man an der Anschauung festhält,
dass die in historischer Zeit erscheinenden Sprachen durch mehrfache Gabelungen
aus der Ursprache hervorgegangen seien, d. h. so lange man einen Stammbaum
der indogermanischen Sprachen annimmt, wird man nie dazu gelangen, alle die
in Frage stehenden Thatsachen wissenschaftlich zu erklären. Der ganze Charakter
des Slavolettischen bleibt unter dieser Voraussetzung unbegreiflich. Verständlich
wird er nur, wenn wir anerkennen, dass das Slavolettische weder vom Arischen
noch vom Deutschen losgerissen werden kann, sondern die organische Vermit-
telung beider ist". Die Stellung, welcher nach Schmidt im Norden dem Slavo-
lettischen als Vermittler zwischen Germanisch und Arisch zuzuschreiben, kommt
im Süden dem Griechischen zu, S. 24: "auch in Südeuropa besteht dasselbe Ver-
hältniss wie in Nordeuropa, es gibt keine Grenze zwischen den arischen und
europäischen Sprachen, das Griechische ist ebenso unzertrennliah mit dem La-
teinischen wie mit dem Arischen verbunden. Dass es keine gemeinsame euro-
päische Grundsprache gegeben hat, beweist uns schon das Slavische, jetzt sind
auch die südeuropäische und die gräcoitalische Grundsprache unhaltbar ge-
worden, und wir sehen überall nur stufenweisen continuirlichen Uebergang von
Asien nach Europa". Da endlich Schmidt Ebels Versuchen (Beiträge II, 137),
das Keltische dem Germanischen ebenso nahe zu stellen wie dem Italischen bei-
tritt, so wird ihm das Keltische zum Vermittler zwischen Latein und Germanisch,
zwischen Süd- und Nordeuropäisch (S. 25), und "wollen wir uns die Verwandt-
schaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen in einem Bilde darstellen,
welches die Entstehung ihrer Verschiedenheiten veranschaulicht, so müssen wir
die Idee des Stammbaumes gänzlich aufgeben". Schmidt hat dafür denn auch
andere Bilder vorgeschlagen, ohne darauf besonderes Gewicht zu legen, und sich
mit Recht darüber beklagt, dass man an diesen für die Sache unwesentlichen
Vergleichen so viel Anstoss genommen hat. Ich lasse daher diese ganz bei Seite;
allein wie der Stammbaum, um diese unpassende Bezeichnung der Kürze wegen
beizubehalten, nichts anderes ist, als der Ausdruck einer Reihe von ethnogra-
phisch-historischen Thatsachen, von Völkertrennungen durch Wanderung, so
muss man sich auch bei Schmidts Anschauungsweise fragen, wie nimmt sie sich
aus ins ethnographisch-historische übertragen. Die Sprachen führen ja nicht ein
Leben für sich, sondern sind an die Völker gebunden.

Für Schmidts Hypothese bildet die geographische Einheit der indogermani-
schen Völker, die ununterbrochene Continuität des von ihnen bewohnten Ge-
bietes während der Entstehung seiner Reihe von Uebergangsstufen der Sprache
die absolut nothwendige Voraussetzung. Es steht nun fest, dass dieses continuir-
liche Gebiet sich nicht von Anfang an über den ganzen, heutzutage in Asien und
Europa von Indogermanen bewohnten Raum mit Ausfüllung der jetzt von stamm-
fremden Völkern bewohnten Zwischenräume erstreckt haben kann. In völlig

Einleitung.
Theilung in die nordeuropäische Grundsprache und in die arische Grundsprache
aufgelöst hätte, wollte man dies voraussetzen, so käme man wieder in Collision
mit den Eingangs (S. 2 f.) festgestellten gemeinsamen europäischen Eigenthüm-
lichkeiten, welche eine solche Annahme unmöglich machen. Man mag sich also
drehen und wenden, wie man will, so lange man an der Anschauung festhält,
dass die in historischer Zeit erscheinenden Sprachen durch mehrfache Gabelungen
aus der Ursprache hervorgegangen seien, d. h. so lange man einen Stammbaum
der indogermanischen Sprachen annimmt, wird man nie dazu gelangen, alle die
in Frage stehenden Thatsachen wissenschaftlich zu erklären. Der ganze Charakter
des Slavolettischen bleibt unter dieser Voraussetzung unbegreiflich. Verständlich
wird er nur, wenn wir anerkennen, dass das Slavolettische weder vom Arischen
noch vom Deutschen losgerissen werden kann, sondern die organische Vermit-
telung beider ist». Die Stellung, welcher nach Schmidt im Norden dem Slavo-
lettischen als Vermittler zwischen Germanisch und Arisch zuzuschreiben, kommt
im Süden dem Griechischen zu, S. 24: «auch in Südeuropa besteht dasselbe Ver-
hältniss wie in Nordeuropa, es gibt keine Grenze zwischen den arischen und
europäischen Sprachen, das Griechische ist ebenso unzertrennliah mit dem La-
teinischen wie mit dem Arischen verbunden. Dass es keine gemeinsame euro-
päische Grundsprache gegeben hat, beweist uns schon das Slavische, jetzt sind
auch die südeuropäische und die gräcoitalische Grundsprache unhaltbar ge-
worden, und wir sehen überall nur stufenweisen continuirlichen Uebergang von
Asien nach Europa». Da endlich Schmidt Ebels Versuchen (Beiträge II, 137),
das Keltische dem Germanischen ebenso nahe zu stellen wie dem Italischen bei-
tritt, so wird ihm das Keltische zum Vermittler zwischen Latein und Germanisch,
zwischen Süd- und Nordeuropäisch (S. 25), und «wollen wir uns die Verwandt-
schaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen in einem Bilde darstellen,
welches die Entstehung ihrer Verschiedenheiten veranschaulicht, so müssen wir
die Idee des Stammbaumes gänzlich aufgeben». Schmidt hat dafür denn auch
andere Bilder vorgeschlagen, ohne darauf besonderes Gewicht zu legen, und sich
mit Recht darüber beklagt, dass man an diesen für die Sache unwesentlichen
Vergleichen so viel Anstoss genommen hat. Ich lasse daher diese ganz bei Seite;
allein wie der Stammbaum, um diese unpassende Bezeichnung der Kürze wegen
beizubehalten, nichts anderes ist, als der Ausdruck einer Reihe von ethnogra-
phisch-historischen Thatsachen, von Völkertrennungen durch Wanderung, so
muss man sich auch bei Schmidts Anschauungsweise fragen, wie nimmt sie sich
aus ins ethnographisch-historische übertragen. Die Sprachen führen ja nicht ein
Leben für sich, sondern sind an die Völker gebunden.

Für Schmidts Hypothese bildet die geographische Einheit der indogermani-
schen Völker, die ununterbrochene Continuität des von ihnen bewohnten Ge-
bietes während der Entstehung seiner Reihe von Uebergangsstufen der Sprache
die absolut nothwendige Voraussetzung. Es steht nun fest, dass dieses continuir-
liche Gebiet sich nicht von Anfang an über den ganzen, heutzutage in Asien und
Europa von Indogermanen bewohnten Raum mit Ausfüllung der jetzt von stamm-
fremden Völkern bewohnten Zwischenräume erstreckt haben kann. In völlig

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0015" n="IX"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Einleitung</hi>.</fw><lb/>
Theilung in die nordeuropäische Grundsprache und in die arische Grundsprache<lb/>
aufgelöst hätte, wollte man dies voraussetzen, so käme man wieder in Collision<lb/>
mit den Eingangs (S. 2 f.) festgestellten gemeinsamen europäischen Eigenthüm-<lb/>
lichkeiten, welche eine solche Annahme unmöglich machen. Man mag sich also<lb/>
drehen und wenden, wie man will, so lange man an der Anschauung festhält,<lb/>
dass die in historischer Zeit erscheinenden Sprachen durch mehrfache Gabelungen<lb/>
aus der Ursprache hervorgegangen seien, d. h. so lange man einen Stammbaum<lb/>
der indogermanischen Sprachen annimmt, wird man nie dazu gelangen, alle die<lb/>
in Frage stehenden Thatsachen wissenschaftlich zu erklären. Der ganze Charakter<lb/>
des Slavolettischen bleibt unter dieser Voraussetzung unbegreiflich. Verständlich<lb/>
wird er nur, wenn wir anerkennen, dass das Slavolettische weder vom Arischen<lb/>
noch vom Deutschen losgerissen werden kann, sondern die organische Vermit-<lb/>
telung beider ist». Die Stellung, welcher nach Schmidt im Norden dem Slavo-<lb/>
lettischen als Vermittler zwischen Germanisch und Arisch zuzuschreiben, kommt<lb/>
im Süden dem Griechischen zu, S. 24: «auch in Südeuropa besteht dasselbe Ver-<lb/>
hältniss wie in Nordeuropa, es gibt keine Grenze zwischen den arischen und<lb/>
europäischen Sprachen, das Griechische ist ebenso unzertrennliah mit dem La-<lb/>
teinischen wie mit dem Arischen verbunden. Dass es keine gemeinsame euro-<lb/>
päische Grundsprache gegeben hat, beweist uns schon das Slavische, jetzt sind<lb/>
auch die südeuropäische und die gräcoitalische Grundsprache unhaltbar ge-<lb/>
worden, und wir sehen überall nur stufenweisen continuirlichen Uebergang von<lb/>
Asien nach Europa». Da endlich Schmidt Ebels Versuchen (Beiträge II, 137),<lb/>
das Keltische dem Germanischen ebenso nahe zu stellen wie dem Italischen bei-<lb/>
tritt, so wird ihm das Keltische zum Vermittler zwischen Latein und Germanisch,<lb/>
zwischen Süd- und Nordeuropäisch (S. 25), und «wollen wir uns die Verwandt-<lb/>
schaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen in einem Bilde darstellen,<lb/>
welches die Entstehung ihrer Verschiedenheiten veranschaulicht, so müssen wir<lb/>
die Idee des Stammbaumes gänzlich aufgeben». Schmidt hat dafür denn auch<lb/>
andere Bilder vorgeschlagen, ohne darauf besonderes Gewicht zu legen, und sich<lb/>
mit Recht darüber beklagt, dass man an diesen für die Sache unwesentlichen<lb/>
Vergleichen so viel Anstoss genommen hat. Ich lasse daher diese ganz bei Seite;<lb/>
allein wie der Stammbaum, um diese unpassende Bezeichnung der Kürze wegen<lb/>
beizubehalten, nichts anderes ist, als der Ausdruck einer Reihe von ethnogra-<lb/>
phisch-historischen Thatsachen, von Völkertrennungen durch Wanderung, so<lb/>
muss man sich auch bei Schmidts Anschauungsweise fragen, wie nimmt sie sich<lb/>
aus ins ethnographisch-historische übertragen. Die Sprachen führen ja nicht ein<lb/>
Leben für sich, sondern sind an die Völker gebunden.</p><lb/>
        <p>Für Schmidts Hypothese bildet die geographische Einheit der indogermani-<lb/>
schen Völker, die ununterbrochene Continuität des von ihnen bewohnten Ge-<lb/>
bietes während der Entstehung seiner Reihe von Uebergangsstufen der Sprache<lb/>
die absolut nothwendige Voraussetzung. Es steht nun fest, dass dieses continuir-<lb/>
liche Gebiet sich nicht von Anfang an über den ganzen, heutzutage in Asien und<lb/>
Europa von Indogermanen bewohnten Raum mit Ausfüllung der jetzt von stamm-<lb/>
fremden Völkern bewohnten Zwischenräume erstreckt haben kann. In völlig<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[IX/0015] Einleitung. Theilung in die nordeuropäische Grundsprache und in die arische Grundsprache aufgelöst hätte, wollte man dies voraussetzen, so käme man wieder in Collision mit den Eingangs (S. 2 f.) festgestellten gemeinsamen europäischen Eigenthüm- lichkeiten, welche eine solche Annahme unmöglich machen. Man mag sich also drehen und wenden, wie man will, so lange man an der Anschauung festhält, dass die in historischer Zeit erscheinenden Sprachen durch mehrfache Gabelungen aus der Ursprache hervorgegangen seien, d. h. so lange man einen Stammbaum der indogermanischen Sprachen annimmt, wird man nie dazu gelangen, alle die in Frage stehenden Thatsachen wissenschaftlich zu erklären. Der ganze Charakter des Slavolettischen bleibt unter dieser Voraussetzung unbegreiflich. Verständlich wird er nur, wenn wir anerkennen, dass das Slavolettische weder vom Arischen noch vom Deutschen losgerissen werden kann, sondern die organische Vermit- telung beider ist». Die Stellung, welcher nach Schmidt im Norden dem Slavo- lettischen als Vermittler zwischen Germanisch und Arisch zuzuschreiben, kommt im Süden dem Griechischen zu, S. 24: «auch in Südeuropa besteht dasselbe Ver- hältniss wie in Nordeuropa, es gibt keine Grenze zwischen den arischen und europäischen Sprachen, das Griechische ist ebenso unzertrennliah mit dem La- teinischen wie mit dem Arischen verbunden. Dass es keine gemeinsame euro- päische Grundsprache gegeben hat, beweist uns schon das Slavische, jetzt sind auch die südeuropäische und die gräcoitalische Grundsprache unhaltbar ge- worden, und wir sehen überall nur stufenweisen continuirlichen Uebergang von Asien nach Europa». Da endlich Schmidt Ebels Versuchen (Beiträge II, 137), das Keltische dem Germanischen ebenso nahe zu stellen wie dem Italischen bei- tritt, so wird ihm das Keltische zum Vermittler zwischen Latein und Germanisch, zwischen Süd- und Nordeuropäisch (S. 25), und «wollen wir uns die Verwandt- schaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen in einem Bilde darstellen, welches die Entstehung ihrer Verschiedenheiten veranschaulicht, so müssen wir die Idee des Stammbaumes gänzlich aufgeben». Schmidt hat dafür denn auch andere Bilder vorgeschlagen, ohne darauf besonderes Gewicht zu legen, und sich mit Recht darüber beklagt, dass man an diesen für die Sache unwesentlichen Vergleichen so viel Anstoss genommen hat. Ich lasse daher diese ganz bei Seite; allein wie der Stammbaum, um diese unpassende Bezeichnung der Kürze wegen beizubehalten, nichts anderes ist, als der Ausdruck einer Reihe von ethnogra- phisch-historischen Thatsachen, von Völkertrennungen durch Wanderung, so muss man sich auch bei Schmidts Anschauungsweise fragen, wie nimmt sie sich aus ins ethnographisch-historische übertragen. Die Sprachen führen ja nicht ein Leben für sich, sondern sind an die Völker gebunden. Für Schmidts Hypothese bildet die geographische Einheit der indogermani- schen Völker, die ununterbrochene Continuität des von ihnen bewohnten Ge- bietes während der Entstehung seiner Reihe von Uebergangsstufen der Sprache die absolut nothwendige Voraussetzung. Es steht nun fest, dass dieses continuir- liche Gebiet sich nicht von Anfang an über den ganzen, heutzutage in Asien und Europa von Indogermanen bewohnten Raum mit Ausfüllung der jetzt von stamm- fremden Völkern bewohnten Zwischenräume erstreckt haben kann. In völlig

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/15
Zitationshilfe: Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/15>, abgerufen am 21.11.2024.