Voltaire und Shakespear wetteiferten einst um den Tod des Cäsars. Die ganze Stadt weiß davon. Jch möchte sagen, ein kleiner Vogel verbarg sich einst unter die Flügel ei- nes Adlers, darnach satzt' er ihm auf den Rücken und dann: Quo me Bache rapis tui plenum? Hernach, die Historie ist lustig, klatscht' ein berühmter Kunstrichter in die Hände: il nostro poeta ha fatto quel uso di Shakespeare che Virgilio faceva di Ennio. Nur möchte man beherzigen, mit wie vieler Vor- sicht -- und daß er blos den Ernst der En- gelländer auf die vaterländische Bühne ge- bracht, nicht aber ihre Wildheit. Dawider hätt' ich nun nichts einzuwenden, wenn man mir erlaubt, die Vorsicht, durch Ohnmacht zu übersetzen, den harten Ausdruck ferocita, durch Genie, und die Moral drunter schrei- be: Wenn der Fuchs die Trauben nicht lan- gen kann --
Jn eine ausführliche Parallele des Ju- lius Cäsar und des la mort de Caesar mag sich ein anderer einlassen -- nicht den bey- derseitigen Bau der Fabel, Gruppirung der Charaktere, Vorbereitung und Schwingung der Situationen -- nichts von der Portia sagen, die V. nicht würdig fand -- nichts von der nahen Blutsfreundschaft zwischen Cäsar und Brutus, die er wie einen blauen Lappen aufs grüne Kleid -- bloß beyde Dich-
ter
Voltaire und Shakeſpear wetteiferten einſt um den Tod des Caͤſars. Die ganze Stadt weiß davon. Jch moͤchte ſagen, ein kleiner Vogel verbarg ſich einſt unter die Fluͤgel ei- nes Adlers, darnach ſatzt’ er ihm auf den Ruͤcken und dann: Quo me Bache rapis tui plenum? Hernach, die Hiſtorie iſt luſtig, klatſcht’ ein beruͤhmter Kunſtrichter in die Haͤnde: il noſtro poeta ha fatto quel uſo di Shakeſpeare che Virgilio faceva di Ennio. Nur moͤchte man beherzigen, mit wie vieler Vor- ſicht — und daß er blos den Ernſt der En- gellaͤnder auf die vaterlaͤndiſche Buͤhne ge- bracht, nicht aber ihre Wildheit. Dawider haͤtt’ ich nun nichts einzuwenden, wenn man mir erlaubt, die Vorſicht, durch Ohnmacht zu uͤberſetzen, den harten Ausdruck ferocitá, durch Genie, und die Moral drunter ſchrei- be: Wenn der Fuchs die Trauben nicht lan- gen kann —
Jn eine ausfuͤhrliche Parallele des Ju- lius Caͤſar und des la mort de Caeſar mag ſich ein anderer einlaſſen — nicht den bey- derſeitigen Bau der Fabel, Gruppirung der Charaktere, Vorbereitung und Schwingung der Situationen — nichts von der Portia ſagen, die V. nicht wuͤrdig fand — nichts von der nahen Blutsfreundſchaft zwiſchen Caͤſar und Brutus, die er wie einen blauen Lappen aufs gruͤne Kleid — bloß beyde Dich-
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Voltaire und Shakeſpear wetteiferten einſt
um den Tod des Caͤſars. Die ganze Stadt
weiß davon. Jch moͤchte ſagen, ein kleiner
Vogel verbarg ſich einſt unter die Fluͤgel ei-
nes Adlers, darnach ſatzt’ er ihm auf den
Ruͤcken und dann: Quo me Bache rapis tui
plenum? Hernach, die Hiſtorie iſt luſtig,
klatſcht’ ein beruͤhmter Kunſtrichter in die
Haͤnde: il noſtro poeta ha fatto quel uſo di
Shakeſpeare che Virgilio faceva di Ennio. Nur
moͤchte man beherzigen, mit wie vieler Vor-
ſicht — und daß er blos den Ernſt der En-
gellaͤnder auf die vaterlaͤndiſche Buͤhne ge-
bracht, nicht aber ihre Wildheit. Dawider
haͤtt’ ich nun nichts einzuwenden, wenn man
mir erlaubt, die Vorſicht, durch Ohnmacht
zu uͤberſetzen, den harten Ausdruck ferocitá,
durch Genie, und die Moral drunter ſchrei-
be: Wenn der Fuchs die Trauben nicht lan-
gen kann —
Jn eine ausfuͤhrliche Parallele des Ju-
lius Caͤſar und des la mort de Caeſar mag
ſich ein anderer einlaſſen — nicht den bey-
derſeitigen Bau der Fabel, Gruppirung der
Charaktere, Vorbereitung und Schwingung
der Situationen — nichts von der Portia
ſagen, die V. nicht wuͤrdig fand — nichts
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Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/50>, abgerufen am 03.07.2024.
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