Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



gen kann. Da ein eisernes Schicksal die
Handlungen der Alten bestimmte und regierte,
so konnten sie als solche interessiren, ohne
davon den Grund in der menschlichen Seele
aufzusuchen und sichtbar zu machen. Wir
aber hassen solche Handlungen, von denen
wir die Ursache nicht einsehen, und nehmen
keinen Theil dran. Daher sehen sich die heu-
tigen Aristoteliker, die bloß Leidenschaften oh-
ne Charakteren mahlen, (und die ich übri-
gens in ihrem anderweitigen Werth lassen will)
genöthigt, eine gewisse Psychologie für alle
ihre handelnde Personen anzunehmen, aus
der sie darnach alle Phänomen ihrer Hand-
lungen so geschickt und ungezwungen ablei-
ten können und die im Grunde mit Erlaub-
niß dieser Herren nichts als ihre eigene
Psychologie ist. Wo bleibt aber da der Dich-
ter, Christlicher Leser! wo bleibt die Folie?
Grosse Philosophen mögen diese Herren im-
mer seyn, grosse allgemeine Menschenkennt-
niß, Gesetze der menschlichen Seele Kennt-
niß, aber wo bleibt die individuelle?
Wo die uneckle, immer gleich glänzende, rück-
spiegelnde, sie mag im Todtengräberbusen
forschen oder unterm Reifrock der Königin?
Was ist Grandison, der abstrahirte geträum-
te
, gegen einen Rebhuhn, der da steht? Für
den mittelmäßigen Theil des Publikums wird
Rousseau (der göttliche Rousseau selbst --)

un-
B 4



gen kann. Da ein eiſernes Schickſal die
Handlungen der Alten beſtimmte und regierte,
ſo konnten ſie als ſolche intereſſiren, ohne
davon den Grund in der menſchlichen Seele
aufzuſuchen und ſichtbar zu machen. Wir
aber haſſen ſolche Handlungen, von denen
wir die Urſache nicht einſehen, und nehmen
keinen Theil dran. Daher ſehen ſich die heu-
tigen Ariſtoteliker, die bloß Leidenſchaften oh-
ne Charakteren mahlen, (und die ich uͤbri-
gens in ihrem anderweitigen Werth laſſen will)
genoͤthigt, eine gewiſſe Pſychologie fuͤr alle
ihre handelnde Perſonen anzunehmen, aus
der ſie darnach alle Phaͤnomen ihrer Hand-
lungen ſo geſchickt und ungezwungen ablei-
ten koͤnnen und die im Grunde mit Erlaub-
niß dieſer Herren nichts als ihre eigene
Pſychologie iſt. Wo bleibt aber da der Dich-
ter, Chriſtlicher Leſer! wo bleibt die Folie?
Groſſe Philoſophen moͤgen dieſe Herren im-
mer ſeyn, groſſe allgemeine Menſchenkennt-
niß, Geſetze der menſchlichen Seele Kennt-
niß, aber wo bleibt die individuelle?
Wo die uneckle, immer gleich glaͤnzende, ruͤck-
ſpiegelnde, ſie mag im Todtengraͤberbuſen
forſchen oder unterm Reifrock der Koͤnigin?
Was iſt Grandiſon, der abſtrahirte getraͤum-
te
, gegen einen Rebhuhn, der da ſteht? Fuͤr
den mittelmaͤßigen Theil des Publikums wird
Rouſſeau (der goͤttliche Rouſſeau ſelbſt —)

un-
B 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0029" n="27[23]"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
gen kann. Da ein ei&#x017F;ernes Schick&#x017F;al die<lb/>
Handlungen der Alten be&#x017F;timmte und regierte,<lb/>
&#x017F;o konnten &#x017F;ie als &#x017F;olche intere&#x017F;&#x017F;iren, ohne<lb/>
davon den Grund in der men&#x017F;chlichen Seele<lb/>
aufzu&#x017F;uchen und &#x017F;ichtbar zu machen. Wir<lb/>
aber <choice><sic>haffen</sic><corr>ha&#x017F;&#x017F;en</corr></choice> &#x017F;olche Handlungen, von denen<lb/>
wir die Ur&#x017F;ache nicht ein&#x017F;ehen, und nehmen<lb/>
keinen Theil dran. Daher &#x017F;ehen &#x017F;ich die heu-<lb/>
tigen Ari&#x017F;toteliker, die bloß Leiden&#x017F;chaften oh-<lb/>
ne Charakteren mahlen, (und die ich u&#x0364;bri-<lb/>
gens in ihrem anderweitigen Werth la&#x017F;&#x017F;en will)<lb/>
geno&#x0364;thigt, <hi rendition="#g">eine</hi> gewi&#x017F;&#x017F;e P&#x017F;ychologie fu&#x0364;r alle<lb/>
ihre handelnde Per&#x017F;onen anzunehmen, aus<lb/>
der &#x017F;ie darnach alle Pha&#x0364;nomen ihrer Hand-<lb/>
lungen &#x017F;o ge&#x017F;chickt und ungezwungen ablei-<lb/>
ten ko&#x0364;nnen und die im Grunde mit Erlaub-<lb/>
niß die&#x017F;er Herren nichts als <hi rendition="#g">ihre eigene</hi><lb/>
P&#x017F;ychologie i&#x017F;t. Wo bleibt aber da der Dich-<lb/>
ter, Chri&#x017F;tlicher Le&#x017F;er! wo bleibt die Folie?<lb/>
Gro&#x017F;&#x017F;e Philo&#x017F;ophen mo&#x0364;gen die&#x017F;e Herren im-<lb/>
mer &#x017F;eyn, gro&#x017F;&#x017F;e allgemeine Men&#x017F;chenkennt-<lb/>
niß, Ge&#x017F;etze der men&#x017F;chlichen Seele Kennt-<lb/>
niß, aber wo bleibt die <hi rendition="#g">individuelle?</hi><lb/>
Wo die uneckle, immer gleich gla&#x0364;nzende, ru&#x0364;ck-<lb/>
&#x017F;piegelnde, &#x017F;ie mag im Todtengra&#x0364;berbu&#x017F;en<lb/>
for&#x017F;chen oder unterm Reifrock der Ko&#x0364;nigin?<lb/>
Was i&#x017F;t Grandi&#x017F;on, der ab&#x017F;trahirte <choice><sic>getra&#x0364;nm-<lb/>
te</sic><corr>getra&#x0364;um-<lb/>
te</corr></choice>, gegen einen Rebhuhn, der da &#x017F;teht? Fu&#x0364;r<lb/>
den mittelma&#x0364;ßigen Theil des Publikums wird<lb/>
Rou&#x017F;&#x017F;eau (der go&#x0364;ttliche Rou&#x017F;&#x017F;eau &#x017F;elb&#x017F;t &#x2014;)<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 4</fw><fw place="bottom" type="catch">un-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27[23]/0029] gen kann. Da ein eiſernes Schickſal die Handlungen der Alten beſtimmte und regierte, ſo konnten ſie als ſolche intereſſiren, ohne davon den Grund in der menſchlichen Seele aufzuſuchen und ſichtbar zu machen. Wir aber haſſen ſolche Handlungen, von denen wir die Urſache nicht einſehen, und nehmen keinen Theil dran. Daher ſehen ſich die heu- tigen Ariſtoteliker, die bloß Leidenſchaften oh- ne Charakteren mahlen, (und die ich uͤbri- gens in ihrem anderweitigen Werth laſſen will) genoͤthigt, eine gewiſſe Pſychologie fuͤr alle ihre handelnde Perſonen anzunehmen, aus der ſie darnach alle Phaͤnomen ihrer Hand- lungen ſo geſchickt und ungezwungen ablei- ten koͤnnen und die im Grunde mit Erlaub- niß dieſer Herren nichts als ihre eigene Pſychologie iſt. Wo bleibt aber da der Dich- ter, Chriſtlicher Leſer! wo bleibt die Folie? Groſſe Philoſophen moͤgen dieſe Herren im- mer ſeyn, groſſe allgemeine Menſchenkennt- niß, Geſetze der menſchlichen Seele Kennt- niß, aber wo bleibt die individuelle? Wo die uneckle, immer gleich glaͤnzende, ruͤck- ſpiegelnde, ſie mag im Todtengraͤberbuſen forſchen oder unterm Reifrock der Koͤnigin? Was iſt Grandiſon, der abſtrahirte getraͤum- te, gegen einen Rebhuhn, der da ſteht? Fuͤr den mittelmaͤßigen Theil des Publikums wird Rouſſeau (der goͤttliche Rouſſeau ſelbſt —) un- B 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/29
Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 27[23]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/29>, abgerufen am 24.11.2024.