Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.da es sich so ganz natürlich aus dem Ursprung des Schauspiels erklären läßt, als welches anfangs nichts mehr gewesen zu seyn scheint, als ein Lobgesang auf den Vater Bachus von verschiedenen Personen zumal gesungen. Auch würden eines so ungeheuren Parterre unru- hige Zuhörer wenig Erbauung gefunden ha- ben, wenn die Akteurs ihren Prinzessinnen zärtliche Sachen vorgelispelt und vorge- schluchst, die sie unter den Masken selbst kaum gehört, wiewohl auch heutiges Tags sich zuzutragen pflegt, geschweige. Doch lassen wir das lateinische Departement, Sie werden im Jtalienischen, Helden ohne Mannheit und dergleichen, da aber Orpheus den dreyköpfigten Cerberus selbst durch den Klang seiner Leyer dahin gebracht, daß er nicht hat muksen dürfen, sollte ein Sänger oder Sängerin nicht den grimmigsten Kunst- richter? Jch öfne also das vierte Departe- ment, und da erscheint -- ach schöne Spiele- werk! da erscheinen die fürchterlichsten Hel- den des Alterthums, der rasende Oedip, in jeder Hand ein Auge und ein grosses Ge- folge griechischer Jmperatoren, Römischer Bürgermeister, Könige und Kayser, sauber fri- sirt in Haarbeutel und seidenen Strümpfen, unterhalten ihre Madonnen, deren Reifröcke und weisse Schnupftücher jedem Christen- menschen das Herz brechen müssen, in den ga- lan-
da es ſich ſo ganz natuͤrlich aus dem Urſprung des Schauſpiels erklaͤren laͤßt, als welches anfangs nichts mehr geweſen zu ſeyn ſcheint, als ein Lobgeſang auf den Vater Bachus von verſchiedenen Perſonen zumal geſungen. Auch wuͤrden eines ſo ungeheuren Parterre unru- hige Zuhoͤrer wenig Erbauung gefunden ha- ben, wenn die Akteurs ihren Prinzeſſinnen zaͤrtliche Sachen vorgeliſpelt und vorge- ſchluchſt, die ſie unter den Masken ſelbſt kaum gehoͤrt, wiewohl auch heutiges Tags ſich zuzutragen pflegt, geſchweige. Doch laſſen wir das lateiniſche Departement, Sie werden im Jtalieniſchen, Helden ohne Mannheit und dergleichen, da aber Orpheus den dreykoͤpfigten Cerberus ſelbſt durch den Klang ſeiner Leyer dahin gebracht, daß er nicht hat mukſen duͤrfen, ſollte ein Saͤnger oder Saͤngerin nicht den grimmigſten Kunſt- richter? Jch oͤfne alſo das vierte Departe- ment, und da erſcheint — ach ſchoͤne Spiele- werk! da erſcheinen die fuͤrchterlichſten Hel- den des Alterthums, der raſende Oedip, in jeder Hand ein Auge und ein groſſes Ge- folge griechiſcher Jmperatoren, Roͤmiſcher Buͤrgermeiſter, Koͤnige und Kayſer, ſauber fri- ſirt in Haarbeutel und ſeidenen Struͤmpfen, unterhalten ihre Madonnen, deren Reifroͤcke und weiſſe Schnupftuͤcher jedem Chriſten- menſchen das Herz brechen muͤſſen, in den ga- lan-
<TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0012" n="6"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> da es ſich ſo ganz natuͤrlich aus dem Urſprung<lb/> des Schauſpiels erklaͤren laͤßt, als welches<lb/> anfangs nichts mehr geweſen zu ſeyn ſcheint,<lb/> als ein Lobgeſang auf den Vater Bachus von<lb/> verſchiedenen Perſonen zumal geſungen. Auch<lb/> wuͤrden eines ſo ungeheuren Parterre unru-<lb/> hige Zuhoͤrer wenig Erbauung gefunden ha-<lb/> ben, wenn die Akteurs ihren Prinzeſſinnen<lb/> zaͤrtliche Sachen vorgeliſpelt und vorge-<lb/> ſchluchſt, die ſie unter den Masken ſelbſt<lb/> kaum gehoͤrt, wiewohl auch heutiges Tags<lb/> ſich zuzutragen pflegt, geſchweige. Doch<lb/> laſſen wir das lateiniſche Departement, Sie<lb/> werden im Jtalieniſchen, Helden ohne<lb/> Mannheit und dergleichen, da aber Orpheus<lb/> den dreykoͤpfigten Cerberus ſelbſt durch den<lb/> Klang ſeiner Leyer dahin gebracht, daß er<lb/> nicht hat mukſen duͤrfen, ſollte ein Saͤnger<lb/> oder Saͤngerin nicht den grimmigſten Kunſt-<lb/> richter? Jch oͤfne alſo das vierte Departe-<lb/> ment, und da erſcheint — ach ſchoͤne Spiele-<lb/> werk! da erſcheinen die fuͤrchterlichſten Hel-<lb/> den des Alterthums, der raſende Oedip, in<lb/> jeder Hand ein Auge und ein groſſes Ge-<lb/> folge griechiſcher Jmperatoren, Roͤmiſcher<lb/> Buͤrgermeiſter, Koͤnige und Kayſer, ſauber fri-<lb/> ſirt in Haarbeutel und ſeidenen Struͤmpfen,<lb/> unterhalten ihre Madonnen, deren Reifroͤcke<lb/> und weiſſe Schnupftuͤcher jedem Chriſten-<lb/> menſchen das Herz brechen muͤſſen, in den ga-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">lan-</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [6/0012]
da es ſich ſo ganz natuͤrlich aus dem Urſprung
des Schauſpiels erklaͤren laͤßt, als welches
anfangs nichts mehr geweſen zu ſeyn ſcheint,
als ein Lobgeſang auf den Vater Bachus von
verſchiedenen Perſonen zumal geſungen. Auch
wuͤrden eines ſo ungeheuren Parterre unru-
hige Zuhoͤrer wenig Erbauung gefunden ha-
ben, wenn die Akteurs ihren Prinzeſſinnen
zaͤrtliche Sachen vorgeliſpelt und vorge-
ſchluchſt, die ſie unter den Masken ſelbſt
kaum gehoͤrt, wiewohl auch heutiges Tags
ſich zuzutragen pflegt, geſchweige. Doch
laſſen wir das lateiniſche Departement, Sie
werden im Jtalieniſchen, Helden ohne
Mannheit und dergleichen, da aber Orpheus
den dreykoͤpfigten Cerberus ſelbſt durch den
Klang ſeiner Leyer dahin gebracht, daß er
nicht hat mukſen duͤrfen, ſollte ein Saͤnger
oder Saͤngerin nicht den grimmigſten Kunſt-
richter? Jch oͤfne alſo das vierte Departe-
ment, und da erſcheint — ach ſchoͤne Spiele-
werk! da erſcheinen die fuͤrchterlichſten Hel-
den des Alterthums, der raſende Oedip, in
jeder Hand ein Auge und ein groſſes Ge-
folge griechiſcher Jmperatoren, Roͤmiſcher
Buͤrgermeiſter, Koͤnige und Kayſer, ſauber fri-
ſirt in Haarbeutel und ſeidenen Struͤmpfen,
unterhalten ihre Madonnen, deren Reifroͤcke
und weiſſe Schnupftuͤcher jedem Chriſten-
menſchen das Herz brechen muͤſſen, in den ga-
lan-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |