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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 2. Wien, 1892.

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Boston.

Auf den Common-Park blickt der Renaissancebau des State-
House, dessen goldene Kuppel eingangs erwähnt wurde. Letztere
liegt unter 42° 21'5 nördl. Breite und 71° 4' westl. Länge von Green-
wich. In der überaus prächtigen Commonwealth-Avenue (D) erhält
der Park eine originelle Fortsetzung nach West-Boston. Diese Avenue
ist die breiteste der Stadt; ihren mittleren Theil nehmen in der ganzen
Länge von zwei Kilometern Parkanlagen ein, an deren Seiten die
Fahrwege führen. Durch den Luxus der dortigen Paläste und Prunk-
bauten präsentirt die Avenue sich als eine sehenswerthe Weltstrasse
von seltener Grossartigkeit. Die Haupt-Strassenzüge von West-Boston
laufen mit der erwähnten Avenue parallel und bilden das glanzvolle
Hauptquartier der Aristokratie der Stadt.

Der Gesammteindruck von Boston ist ein durchaus angenehmer
und äusserst fesselnder.

Nach der Grösse seiner Bevölkerung ist Boston die vierte Stadt
der Vereinigten Staaten von Amerika. Es hatte nach dem allge-
meinen Census vom 1. Juni 1880 437.290 Einwohner. Für 1889
wird die Bevölkerung auf 542.000 Seelen geschätzt. Der tonange-
bende Theil der Bevölkerung der Stadt verleugnet ebensowenig, wie
die der Neuengland-Staaten überhaupt, den Charakter seines Ursprungs.
Bibelfeste Puritaner, die man in England als Dissenters und Non-
conformisten bedrückte, weil sie mit den Satzungen der bischöf-
lichen Staatskirche nicht übereinstimmten, hatten dieses bewaldete
Land zu ihrer neuen Heimat erwählt.

Hier sind, unter der Breite von Rom, die Winter so kalt,
wie die von Memel an der Nordspitze Ostpreussens, die Sommer
so heiss, wie die von Budapest. Nur durch angestrengte Arbeit
und unermüdlichen Fleiss konnten die Colonisten dem Boden die
nöthigen Bedürfnisse abringen. Dieselbe Hand, welche den Pflug
lenkte, musste aber auch gewöhnt sein, den Carabiner zu führen,
denn Tag und Nacht galt es, das dem Boden Abgewonnene gegen
die räuberischen Indianer zu vertheidigen. Dieser schwere Kampf
gegen Natur und Menschen erzog ein hartes, kühnes, unternehmendes,
aber auch freiheitliebendes Volk. Seine Verfassung und Gemeinde-
ordnung war eine demokratische, denn alle waren auf Arbeit ange-
wiesen und von gemeinsamen Gefahren umgeben. In religiösen Fragen
war man tolerant, hatte man doch zumeist aus Gründen religiöser
Verfolgung die Heimat verlassen, aber in der Ausübung der eigenen
Religion fanatisch streng. In Allen lebte die Ueberzeugung, dass sie
von der Hand der Vorsehung zu Besonderem auserwählt seien. Diese

Boston.

Auf den Common-Park blickt der Renaissancebau des State-
House, dessen goldene Kuppel eingangs erwähnt wurde. Letztere
liegt unter 42° 21′5 nördl. Breite und 71° 4′ westl. Länge von Green-
wich. In der überaus prächtigen Commonwealth-Avenue (D) erhält
der Park eine originelle Fortsetzung nach West-Boston. Diese Avenue
ist die breiteste der Stadt; ihren mittleren Theil nehmen in der ganzen
Länge von zwei Kilometern Parkanlagen ein, an deren Seiten die
Fahrwege führen. Durch den Luxus der dortigen Paläste und Prunk-
bauten präsentirt die Avenue sich als eine sehenswerthe Weltstrasse
von seltener Grossartigkeit. Die Haupt-Strassenzüge von West-Boston
laufen mit der erwähnten Avenue parallel und bilden das glanzvolle
Hauptquartier der Aristokratie der Stadt.

Der Gesammteindruck von Boston ist ein durchaus angenehmer
und äusserst fesselnder.

Nach der Grösse seiner Bevölkerung ist Boston die vierte Stadt
der Vereinigten Staaten von Amerika. Es hatte nach dem allge-
meinen Census vom 1. Juni 1880 437.290 Einwohner. Für 1889
wird die Bevölkerung auf 542.000 Seelen geschätzt. Der tonange-
bende Theil der Bevölkerung der Stadt verleugnet ebensowenig, wie
die der Neuengland-Staaten überhaupt, den Charakter seines Ursprungs.
Bibelfeste Puritaner, die man in England als Dissenters und Non-
conformisten bedrückte, weil sie mit den Satzungen der bischöf-
lichen Staatskirche nicht übereinstimmten, hatten dieses bewaldete
Land zu ihrer neuen Heimat erwählt.

Hier sind, unter der Breite von Rom, die Winter so kalt,
wie die von Memel an der Nordspitze Ostpreussens, die Sommer
so heiss, wie die von Budapest. Nur durch angestrengte Arbeit
und unermüdlichen Fleiss konnten die Colonisten dem Boden die
nöthigen Bedürfnisse abringen. Dieselbe Hand, welche den Pflug
lenkte, musste aber auch gewöhnt sein, den Carabiner zu führen,
denn Tag und Nacht galt es, das dem Boden Abgewonnene gegen
die räuberischen Indianer zu vertheidigen. Dieser schwere Kampf
gegen Natur und Menschen erzog ein hartes, kühnes, unternehmendes,
aber auch freiheitliebendes Volk. Seine Verfassung und Gemeinde-
ordnung war eine demokratische, denn alle waren auf Arbeit ange-
wiesen und von gemeinsamen Gefahren umgeben. In religiösen Fragen
war man tolerant, hatte man doch zumeist aus Gründen religiöser
Verfolgung die Heimat verlassen, aber in der Ausübung der eigenen
Religion fanatisch streng. In Allen lebte die Ueberzeugung, dass sie
von der Hand der Vorsehung zu Besonderem auserwählt seien. Diese

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[37/0053] Boston. Auf den Common-Park blickt der Renaissancebau des State- House, dessen goldene Kuppel eingangs erwähnt wurde. Letztere liegt unter 42° 21′5 nördl. Breite und 71° 4′ westl. Länge von Green- wich. In der überaus prächtigen Commonwealth-Avenue (D) erhält der Park eine originelle Fortsetzung nach West-Boston. Diese Avenue ist die breiteste der Stadt; ihren mittleren Theil nehmen in der ganzen Länge von zwei Kilometern Parkanlagen ein, an deren Seiten die Fahrwege führen. Durch den Luxus der dortigen Paläste und Prunk- bauten präsentirt die Avenue sich als eine sehenswerthe Weltstrasse von seltener Grossartigkeit. Die Haupt-Strassenzüge von West-Boston laufen mit der erwähnten Avenue parallel und bilden das glanzvolle Hauptquartier der Aristokratie der Stadt. Der Gesammteindruck von Boston ist ein durchaus angenehmer und äusserst fesselnder. Nach der Grösse seiner Bevölkerung ist Boston die vierte Stadt der Vereinigten Staaten von Amerika. Es hatte nach dem allge- meinen Census vom 1. Juni 1880 437.290 Einwohner. Für 1889 wird die Bevölkerung auf 542.000 Seelen geschätzt. Der tonange- bende Theil der Bevölkerung der Stadt verleugnet ebensowenig, wie die der Neuengland-Staaten überhaupt, den Charakter seines Ursprungs. Bibelfeste Puritaner, die man in England als Dissenters und Non- conformisten bedrückte, weil sie mit den Satzungen der bischöf- lichen Staatskirche nicht übereinstimmten, hatten dieses bewaldete Land zu ihrer neuen Heimat erwählt. Hier sind, unter der Breite von Rom, die Winter so kalt, wie die von Memel an der Nordspitze Ostpreussens, die Sommer so heiss, wie die von Budapest. Nur durch angestrengte Arbeit und unermüdlichen Fleiss konnten die Colonisten dem Boden die nöthigen Bedürfnisse abringen. Dieselbe Hand, welche den Pflug lenkte, musste aber auch gewöhnt sein, den Carabiner zu führen, denn Tag und Nacht galt es, das dem Boden Abgewonnene gegen die räuberischen Indianer zu vertheidigen. Dieser schwere Kampf gegen Natur und Menschen erzog ein hartes, kühnes, unternehmendes, aber auch freiheitliebendes Volk. Seine Verfassung und Gemeinde- ordnung war eine demokratische, denn alle waren auf Arbeit ange- wiesen und von gemeinsamen Gefahren umgeben. In religiösen Fragen war man tolerant, hatte man doch zumeist aus Gründen religiöser Verfolgung die Heimat verlassen, aber in der Ausübung der eigenen Religion fanatisch streng. In Allen lebte die Ueberzeugung, dass sie von der Hand der Vorsehung zu Besonderem auserwählt seien. Diese

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 2. Wien, 1892, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen02_1892/53>, abgerufen am 25.11.2024.