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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 2. Wien, 1892.

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Chinesische Häfen.
eigentliche Betrachtung der Stadt wohl kaum möglich wird. Diese
würde übrigens schon aus dem Grunde wenig Erfolg bringen, weil
thatsächlich für das Auge des Fremden eine Strasse der anderen voll-
kommen gleicht und ihm nur der grössere oder geringere Aufwand in
der Ausstattung einzelner Verkaufsläden oder die für irgend eine
Strasse als Charakteristik dienende Häufigkeit eines Artikels, der in
den Geschäften ausgeboten wird, als Anhaltspunkt zu einer Orien-
tirung dienen kann.

An der dem Flusse zugewendeten Stadtmauer, in dem flachen, vom
Flusse angeschwemmten und durch zahllose Canäle durchkreuzten
schmalen Terrain, halb auf festem Boden, zum Theil auf Piloten
ruhend, steht Hütte an Hütte und an diese angeschlossen bis nahezu
in die Flussmitte die "Wasserstadt", nämlich Boot an Boot neben
und hinter einander, manches darunter schon so altersschwach und
morsch, dass es wohl nicht wagen darf, sich vom Nachbar loszu-
trennen.

Jedes Boot ist Wohnsitz einer Familie, die hier ungestört
und unbekümmert um das Treiben der eng angeschlossenen Nach-
barn haust. Würde so ein Boot nicht zeitweilig als Brücke dienen,
über welche das feste Land zu erreichen ist, oder würde dessen An-
näherung im Momente hoher Fluth oder eines Sturmes nicht un-
leidlich, so möchte wohl eines dem anderen kaum Beachtung
schenken, trotz der langen Reihe von Jahren, seit sie Bord an Bord
liegen mögen. Während der Tagesstunden sind die Männer meist aus-
wärts auf Arbeit, nur Frauen und eine Schaar von Kindern bleiben
an Bord.

Die Mutter im Achterraum, auf dem Rücken das kleinste der
Kinder in einer Art von Rücksack, waltet aus Hausfrau und sorgt
für ihre Schutzbefohlenen im Mittelraum des Bootes, der mit ver-
schiebbaren halbcylinderförmigen Rotangdeckeln überdacht ist. Es ist
dieses ein bescheidenes Dasein, das in dieser Art nur ein Chinese
zu würdigen im Stande ist. Küche, Schlafstellen, ein Hausaltar und
selbst die kargen Vorräthe finden in diesem Mittelraum, der kaum
nach Spannen misst, ihren Platz.

Ganz schmale Canäle führen zwischen der Bootsflotte durch; nur
durch Ziehen, Stossen und Schieben kann sich hier ein Fahrzeug
einen Weg bahnen, wenn das vielstimmige, den Eindringling be-
grüssende Geschrei und Gekreische ihn nicht von seinem Vorhaben
abhält, das Flussufer etwa in dieser Art zu erreichen, wonach der
Insasse es vorzieht, den in diesem Falle minder umständlichen Weg

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Chinesische Häfen.
eigentliche Betrachtung der Stadt wohl kaum möglich wird. Diese
würde übrigens schon aus dem Grunde wenig Erfolg bringen, weil
thatsächlich für das Auge des Fremden eine Strasse der anderen voll-
kommen gleicht und ihm nur der grössere oder geringere Aufwand in
der Ausstattung einzelner Verkaufsläden oder die für irgend eine
Strasse als Charakteristik dienende Häufigkeit eines Artikels, der in
den Geschäften ausgeboten wird, als Anhaltspunkt zu einer Orien-
tirung dienen kann.

An der dem Flusse zugewendeten Stadtmauer, in dem flachen, vom
Flusse angeschwemmten und durch zahllose Canäle durchkreuzten
schmalen Terrain, halb auf festem Boden, zum Theil auf Piloten
ruhend, steht Hütte an Hütte und an diese angeschlossen bis nahezu
in die Flussmitte die „Wasserstadt“, nämlich Boot an Boot neben
und hinter einander, manches darunter schon so altersschwach und
morsch, dass es wohl nicht wagen darf, sich vom Nachbar loszu-
trennen.

Jedes Boot ist Wohnsitz einer Familie, die hier ungestört
und unbekümmert um das Treiben der eng angeschlossenen Nach-
barn haust. Würde so ein Boot nicht zeitweilig als Brücke dienen,
über welche das feste Land zu erreichen ist, oder würde dessen An-
näherung im Momente hoher Fluth oder eines Sturmes nicht un-
leidlich, so möchte wohl eines dem anderen kaum Beachtung
schenken, trotz der langen Reihe von Jahren, seit sie Bord an Bord
liegen mögen. Während der Tagesstunden sind die Männer meist aus-
wärts auf Arbeit, nur Frauen und eine Schaar von Kindern bleiben
an Bord.

Die Mutter im Achterraum, auf dem Rücken das kleinste der
Kinder in einer Art von Rücksack, waltet aus Hausfrau und sorgt
für ihre Schutzbefohlenen im Mittelraum des Bootes, der mit ver-
schiebbaren halbcylinderförmigen Rotangdeckeln überdacht ist. Es ist
dieses ein bescheidenes Dasein, das in dieser Art nur ein Chinese
zu würdigen im Stande ist. Küche, Schlafstellen, ein Hausaltar und
selbst die kargen Vorräthe finden in diesem Mittelraum, der kaum
nach Spannen misst, ihren Platz.

Ganz schmale Canäle führen zwischen der Bootsflotte durch; nur
durch Ziehen, Stossen und Schieben kann sich hier ein Fahrzeug
einen Weg bahnen, wenn das vielstimmige, den Eindringling be-
grüssende Geschrei und Gekreische ihn nicht von seinem Vorhaben
abhält, das Flussufer etwa in dieser Art zu erreichen, wonach der
Insasse es vorzieht, den in diesem Falle minder umständlichen Weg

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[443/0459] Chinesische Häfen. eigentliche Betrachtung der Stadt wohl kaum möglich wird. Diese würde übrigens schon aus dem Grunde wenig Erfolg bringen, weil thatsächlich für das Auge des Fremden eine Strasse der anderen voll- kommen gleicht und ihm nur der grössere oder geringere Aufwand in der Ausstattung einzelner Verkaufsläden oder die für irgend eine Strasse als Charakteristik dienende Häufigkeit eines Artikels, der in den Geschäften ausgeboten wird, als Anhaltspunkt zu einer Orien- tirung dienen kann. An der dem Flusse zugewendeten Stadtmauer, in dem flachen, vom Flusse angeschwemmten und durch zahllose Canäle durchkreuzten schmalen Terrain, halb auf festem Boden, zum Theil auf Piloten ruhend, steht Hütte an Hütte und an diese angeschlossen bis nahezu in die Flussmitte die „Wasserstadt“, nämlich Boot an Boot neben und hinter einander, manches darunter schon so altersschwach und morsch, dass es wohl nicht wagen darf, sich vom Nachbar loszu- trennen. Jedes Boot ist Wohnsitz einer Familie, die hier ungestört und unbekümmert um das Treiben der eng angeschlossenen Nach- barn haust. Würde so ein Boot nicht zeitweilig als Brücke dienen, über welche das feste Land zu erreichen ist, oder würde dessen An- näherung im Momente hoher Fluth oder eines Sturmes nicht un- leidlich, so möchte wohl eines dem anderen kaum Beachtung schenken, trotz der langen Reihe von Jahren, seit sie Bord an Bord liegen mögen. Während der Tagesstunden sind die Männer meist aus- wärts auf Arbeit, nur Frauen und eine Schaar von Kindern bleiben an Bord. Die Mutter im Achterraum, auf dem Rücken das kleinste der Kinder in einer Art von Rücksack, waltet aus Hausfrau und sorgt für ihre Schutzbefohlenen im Mittelraum des Bootes, der mit ver- schiebbaren halbcylinderförmigen Rotangdeckeln überdacht ist. Es ist dieses ein bescheidenes Dasein, das in dieser Art nur ein Chinese zu würdigen im Stande ist. Küche, Schlafstellen, ein Hausaltar und selbst die kargen Vorräthe finden in diesem Mittelraum, der kaum nach Spannen misst, ihren Platz. Ganz schmale Canäle führen zwischen der Bootsflotte durch; nur durch Ziehen, Stossen und Schieben kann sich hier ein Fahrzeug einen Weg bahnen, wenn das vielstimmige, den Eindringling be- grüssende Geschrei und Gekreische ihn nicht von seinem Vorhaben abhält, das Flussufer etwa in dieser Art zu erreichen, wonach der Insasse es vorzieht, den in diesem Falle minder umständlichen Weg 56*

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 2. Wien, 1892, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen02_1892/459>, abgerufen am 25.11.2024.