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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891.

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Marseille.

Seit Errichtung der Märkte von Lyon 1443 gelangten wohl eine
Zeit lang die Gewürze auf dem Landwege von Venedig in das Innere
Frankreichs, aber wenige Jahrzehnte später wurde ja Lissabon Sitz
des Handels mit Gewürzen, und unter Heinrich IV., der 1599 die
Handelskammer von Marseille errichtete, um "zu überwachen und zu
fördern alle Dinge, die Geschäft, Handel und Verkehr betreffen
würden", ist Marseille Frankreichs Hauptexporthafen. Der venetianische
Gesandte, der die Stadt kurz nach dem Tode des Königs sah, nennt
sie Venedig weit überlegen, das "Emporium ganz Europas", und der
Hafen soll jährlich 8 Millionen Goldthaler, nach jetzigem Geldwerthe
78 Millionen Gulden, reinen Gewinn abgeworfen haben.

Aber auch Marseille verlor allmälig "sein Brot", seinen Levante-
handel; als etwa 50 Jahre später Colbert an die wirthschaftliche
Neugestaltung Frankreichs ging, gründete man zu seiner Wieder-
belebung mit Staatsgarantie die Compagnie der Levante, und der
Handel dahin wurde erst 1790 freigegeben; der Convent hob auch
den Freihafen auf.

In dem kolossalen Zollkriege Frankreichs mit England, den man
Continentalsperre nennt, ging auch Marseilles Handel zu Grunde und,
um es gegen Triest, Genua, Livorno concurrenzfähig zu machen, wurde
Marseille am 4. November 1814 neuerdings Freihafen. Lange dauerte
es, bis Englands Vorherrschaft im Mittelmeere etwas zurückgedrängt
war; 1829 hatte der Handel noch nicht die Höhe wieder erreicht,
die er vor der Revolution eingenommen hatte.

Die neue Blüthe Marseilles hebt erst an mit der Eroberung
Algiers 1830; die Errichtung grosser Entrepots unter Louis Philipp
die Gründung der Schiffahrtsunternehmung Messageries maritimes,
8. Juli 1851, die zunächst den Verkehr nach der Levante vermittelte,
1857 den La Plata, seit dem Anfange der Sechzigerjahre Ostasien
und später Australien in den Kreis ihrer Thätigkeit zog, endlich die
Vollendung der Eisenbahnlinie Paris--Marseille im Jahre 1855 sind
die wichtigsten Marksteine der Geschichte Marseille in den letzten
Jahrzehnten.

So erscheint uns denn die Blüthe des heutigen Marseille als
ein Product, erzeugt in erster Linie durch die Intelligenz und den
Unternehmungsgeist der heimischen Kaufmannschaft, getragen durch
den Opfermuth der französischen Nation und die staatskluge Handels-
politik der Regierung. Allen diesen Kreisen ist es klar, dass, soll
diese Blüthe nicht bald verwelken, man nicht stille stehen darf.
Wohl kennt man die Gefahr. Ein Gegner, den man seit Jahrhunderten

Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 51
Marseille.

Seit Errichtung der Märkte von Lyon 1443 gelangten wohl eine
Zeit lang die Gewürze auf dem Landwege von Venedig in das Innere
Frankreichs, aber wenige Jahrzehnte später wurde ja Lissabon Sitz
des Handels mit Gewürzen, und unter Heinrich IV., der 1599 die
Handelskammer von Marseille errichtete, um „zu überwachen und zu
fördern alle Dinge, die Geschäft, Handel und Verkehr betreffen
würden“, ist Marseille Frankreichs Hauptexporthafen. Der venetianische
Gesandte, der die Stadt kurz nach dem Tode des Königs sah, nennt
sie Venedig weit überlegen, das „Emporium ganz Europas“, und der
Hafen soll jährlich 8 Millionen Goldthaler, nach jetzigem Geldwerthe
78 Millionen Gulden, reinen Gewinn abgeworfen haben.

Aber auch Marseille verlor allmälig „sein Brot“, seinen Levante-
handel; als etwa 50 Jahre später Colbert an die wirthschaftliche
Neugestaltung Frankreichs ging, gründete man zu seiner Wieder-
belebung mit Staatsgarantie die Compagnie der Levante, und der
Handel dahin wurde erst 1790 freigegeben; der Convent hob auch
den Freihafen auf.

In dem kolossalen Zollkriege Frankreichs mit England, den man
Continentalsperre nennt, ging auch Marseilles Handel zu Grunde und,
um es gegen Triest, Genua, Livorno concurrenzfähig zu machen, wurde
Marseille am 4. November 1814 neuerdings Freihafen. Lange dauerte
es, bis Englands Vorherrschaft im Mittelmeere etwas zurückgedrängt
war; 1829 hatte der Handel noch nicht die Höhe wieder erreicht,
die er vor der Revolution eingenommen hatte.

Die neue Blüthe Marseilles hebt erst an mit der Eroberung
Algiers 1830; die Errichtung grosser Entrepôts unter Louis Philipp
die Gründung der Schiffahrtsunternehmung Messageries maritimes,
8. Juli 1851, die zunächst den Verkehr nach der Levante vermittelte,
1857 den La Plata, seit dem Anfange der Sechzigerjahre Ostasien
und später Australien in den Kreis ihrer Thätigkeit zog, endlich die
Vollendung der Eisenbahnlinie Paris—Marseille im Jahre 1855 sind
die wichtigsten Marksteine der Geschichte Marseille in den letzten
Jahrzehnten.

So erscheint uns denn die Blüthe des heutigen Marseille als
ein Product, erzeugt in erster Linie durch die Intelligenz und den
Unternehmungsgeist der heimischen Kaufmannschaft, getragen durch
den Opfermuth der französischen Nation und die staatskluge Handels-
politik der Regierung. Allen diesen Kreisen ist es klar, dass, soll
diese Blüthe nicht bald verwelken, man nicht stille stehen darf.
Wohl kennt man die Gefahr. Ein Gegner, den man seit Jahrhunderten

Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 51
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[401/0421] Marseille. Seit Errichtung der Märkte von Lyon 1443 gelangten wohl eine Zeit lang die Gewürze auf dem Landwege von Venedig in das Innere Frankreichs, aber wenige Jahrzehnte später wurde ja Lissabon Sitz des Handels mit Gewürzen, und unter Heinrich IV., der 1599 die Handelskammer von Marseille errichtete, um „zu überwachen und zu fördern alle Dinge, die Geschäft, Handel und Verkehr betreffen würden“, ist Marseille Frankreichs Hauptexporthafen. Der venetianische Gesandte, der die Stadt kurz nach dem Tode des Königs sah, nennt sie Venedig weit überlegen, das „Emporium ganz Europas“, und der Hafen soll jährlich 8 Millionen Goldthaler, nach jetzigem Geldwerthe 78 Millionen Gulden, reinen Gewinn abgeworfen haben. Aber auch Marseille verlor allmälig „sein Brot“, seinen Levante- handel; als etwa 50 Jahre später Colbert an die wirthschaftliche Neugestaltung Frankreichs ging, gründete man zu seiner Wieder- belebung mit Staatsgarantie die Compagnie der Levante, und der Handel dahin wurde erst 1790 freigegeben; der Convent hob auch den Freihafen auf. In dem kolossalen Zollkriege Frankreichs mit England, den man Continentalsperre nennt, ging auch Marseilles Handel zu Grunde und, um es gegen Triest, Genua, Livorno concurrenzfähig zu machen, wurde Marseille am 4. November 1814 neuerdings Freihafen. Lange dauerte es, bis Englands Vorherrschaft im Mittelmeere etwas zurückgedrängt war; 1829 hatte der Handel noch nicht die Höhe wieder erreicht, die er vor der Revolution eingenommen hatte. Die neue Blüthe Marseilles hebt erst an mit der Eroberung Algiers 1830; die Errichtung grosser Entrepôts unter Louis Philipp die Gründung der Schiffahrtsunternehmung Messageries maritimes, 8. Juli 1851, die zunächst den Verkehr nach der Levante vermittelte, 1857 den La Plata, seit dem Anfange der Sechzigerjahre Ostasien und später Australien in den Kreis ihrer Thätigkeit zog, endlich die Vollendung der Eisenbahnlinie Paris—Marseille im Jahre 1855 sind die wichtigsten Marksteine der Geschichte Marseille in den letzten Jahrzehnten. So erscheint uns denn die Blüthe des heutigen Marseille als ein Product, erzeugt in erster Linie durch die Intelligenz und den Unternehmungsgeist der heimischen Kaufmannschaft, getragen durch den Opfermuth der französischen Nation und die staatskluge Handels- politik der Regierung. Allen diesen Kreisen ist es klar, dass, soll diese Blüthe nicht bald verwelken, man nicht stille stehen darf. Wohl kennt man die Gefahr. Ein Gegner, den man seit Jahrhunderten Die Seehäfen des Weltverkehrs. I. Band. 51

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/421>, abgerufen am 22.11.2024.