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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891.

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Constantinopel.
persischer und türkischer Autoren besitzt. Unter den 71.000 Häusern
ist nur eine Minderzahl für mehr als je eine Familie bestimmt.

Gross ist die Zahl von Aussprüchen, in welchen heidnische,
christliche und mohammedanische Historiker, Geographen, Redner und
Dichter die selten günstige Handelslage Constantinopels gefeiert haben.
Man nennt die Stadt mit Recht "die auf sieben Bergen thronende
Beherrscherin Asiens und Europas", "die Herrin der beiden Continente
und Meere". Aber man erfährt durch diese schwungvollen Worte
doch nicht mehr, als ein ganz oberflächlicher Blick auf die
Karte zeigt.

Erst vor wenig mehr als einem Jahre wurde die Eisenbahnlinie
Belgrad-Constantinopel vollendet, welche einem uralten Handelswege
und Kriegspfade folgt. Dieser zweigt bei Belgrad von der Donau-
strasse ab, folgt einem merkwürdigen Systeme von Flussthälern,
Bergpässen und Ebenen. Längst der Morava und Nischava, des Isker
und der Maritza führt der Weg nach Adrianopel, dem Mittelpunkte
zahlreicher Strassen. Hier wendet sich die Maritza nach Süden, aber
eine einladende Bodensenkung gestattet der Eisenbahn einen leichten,
wenn auch gekrümmten Zugang nach dem südöstlich gelegenen Con-
stantinopel. Und jenseits des Bosporus liegt in Skutari, das zum
Polizeibezirke Constantinopel gehört, die Kopfstation der 93 km
langen Eisenbahn Skutari-Ismid, welche gegenwärtig durch deutsches
Capital und deutsche Ingenieure um mehr als 300 km nach Süd-
ost bis Angora verlängert wird. Diese Strecke ist ein wichtiger Theil
jener seit Jahrtausenden benützten Karawanenstrasse, welche in ihrem
Verlaufe sich in zwei Aeste spaltet. Der eine führt nach Syrien und
Aegypten und hat als "Hadj", das ist als Pilgerstrasse nach Mekka,
noch heute Bedeutung für die Millionen der Mohammedaner Klein-
asiens. Als Handelsweg kann sie mit der Seeverbindung von Con-
stantinopel nach Syrien umsoweniger in Wettbewerb treten, als dort
die grösseren Küstenplätze gute Verkehrswege nach den Stapelplätzen
des Innern besitzen. Aber von Angora nach Südosten fortschreitend
kommt man in die fruchtbaren Länder des Euphrat und Tigris, die
heute wegen unzureichender Verbindung dem Handelseinflusse Con-
stantinopels mehr und mehr entrückt werden und über Bassorah und
den persischen Meerbusen mit Europa in directem Verkehr stehen.

Wir sehen also auf zwei alten Völkerstrassen den Verkehr neu-
belebt durch das moderne Mittel der Eisenbahnen. Die Via Egnatia,
der dritte alte Zugang zu Lande nach Constantinopel, welcher
im südlichen Theile des adriatischen Meeres, in Durazzo, dem alten

16*

Constantinopel.
persischer und türkischer Autoren besitzt. Unter den 71.000 Häusern
ist nur eine Minderzahl für mehr als je eine Familie bestimmt.

Gross ist die Zahl von Aussprüchen, in welchen heidnische,
christliche und mohammedanische Historiker, Geographen, Redner und
Dichter die selten günstige Handelslage Constantinopels gefeiert haben.
Man nennt die Stadt mit Recht „die auf sieben Bergen thronende
Beherrscherin Asiens und Europas“, „die Herrin der beiden Continente
und Meere“. Aber man erfährt durch diese schwungvollen Worte
doch nicht mehr, als ein ganz oberflächlicher Blick auf die
Karte zeigt.

Erst vor wenig mehr als einem Jahre wurde die Eisenbahnlinie
Belgrad-Constantinopel vollendet, welche einem uralten Handelswege
und Kriegspfade folgt. Dieser zweigt bei Belgrad von der Donau-
strasse ab, folgt einem merkwürdigen Systeme von Flussthälern,
Bergpässen und Ebenen. Längst der Morava und Nischava, des Isker
und der Maritza führt der Weg nach Adrianopel, dem Mittelpunkte
zahlreicher Strassen. Hier wendet sich die Maritza nach Süden, aber
eine einladende Bodensenkung gestattet der Eisenbahn einen leichten,
wenn auch gekrümmten Zugang nach dem südöstlich gelegenen Con-
stantinopel. Und jenseits des Bosporus liegt in Skutari, das zum
Polizeibezirke Constantinopel gehört, die Kopfstation der 93 km
langen Eisenbahn Skutari-Ismid, welche gegenwärtig durch deutsches
Capital und deutsche Ingenieure um mehr als 300 km nach Süd-
ost bis Angora verlängert wird. Diese Strecke ist ein wichtiger Theil
jener seit Jahrtausenden benützten Karawanenstrasse, welche in ihrem
Verlaufe sich in zwei Aeste spaltet. Der eine führt nach Syrien und
Aegypten und hat als „Hadj“, das ist als Pilgerstrasse nach Mekka,
noch heute Bedeutung für die Millionen der Mohammedaner Klein-
asiens. Als Handelsweg kann sie mit der Seeverbindung von Con-
stantinopel nach Syrien umsoweniger in Wettbewerb treten, als dort
die grösseren Küstenplätze gute Verkehrswege nach den Stapelplätzen
des Innern besitzen. Aber von Angora nach Südosten fortschreitend
kommt man in die fruchtbaren Länder des Euphrat und Tigris, die
heute wegen unzureichender Verbindung dem Handelseinflusse Con-
stantinopels mehr und mehr entrückt werden und über Bassorah und
den persischen Meerbusen mit Europa in directem Verkehr stehen.

Wir sehen also auf zwei alten Völkerstrassen den Verkehr neu-
belebt durch das moderne Mittel der Eisenbahnen. Die Via Egnatia,
der dritte alte Zugang zu Lande nach Constantinopel, welcher
im südlichen Theile des adriatischen Meeres, in Durazzo, dem alten

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[123/0143] Constantinopel. persischer und türkischer Autoren besitzt. Unter den 71.000 Häusern ist nur eine Minderzahl für mehr als je eine Familie bestimmt. Gross ist die Zahl von Aussprüchen, in welchen heidnische, christliche und mohammedanische Historiker, Geographen, Redner und Dichter die selten günstige Handelslage Constantinopels gefeiert haben. Man nennt die Stadt mit Recht „die auf sieben Bergen thronende Beherrscherin Asiens und Europas“, „die Herrin der beiden Continente und Meere“. Aber man erfährt durch diese schwungvollen Worte doch nicht mehr, als ein ganz oberflächlicher Blick auf die Karte zeigt. Erst vor wenig mehr als einem Jahre wurde die Eisenbahnlinie Belgrad-Constantinopel vollendet, welche einem uralten Handelswege und Kriegspfade folgt. Dieser zweigt bei Belgrad von der Donau- strasse ab, folgt einem merkwürdigen Systeme von Flussthälern, Bergpässen und Ebenen. Längst der Morava und Nischava, des Isker und der Maritza führt der Weg nach Adrianopel, dem Mittelpunkte zahlreicher Strassen. Hier wendet sich die Maritza nach Süden, aber eine einladende Bodensenkung gestattet der Eisenbahn einen leichten, wenn auch gekrümmten Zugang nach dem südöstlich gelegenen Con- stantinopel. Und jenseits des Bosporus liegt in Skutari, das zum Polizeibezirke Constantinopel gehört, die Kopfstation der 93 km langen Eisenbahn Skutari-Ismid, welche gegenwärtig durch deutsches Capital und deutsche Ingenieure um mehr als 300 km nach Süd- ost bis Angora verlängert wird. Diese Strecke ist ein wichtiger Theil jener seit Jahrtausenden benützten Karawanenstrasse, welche in ihrem Verlaufe sich in zwei Aeste spaltet. Der eine führt nach Syrien und Aegypten und hat als „Hadj“, das ist als Pilgerstrasse nach Mekka, noch heute Bedeutung für die Millionen der Mohammedaner Klein- asiens. Als Handelsweg kann sie mit der Seeverbindung von Con- stantinopel nach Syrien umsoweniger in Wettbewerb treten, als dort die grösseren Küstenplätze gute Verkehrswege nach den Stapelplätzen des Innern besitzen. Aber von Angora nach Südosten fortschreitend kommt man in die fruchtbaren Länder des Euphrat und Tigris, die heute wegen unzureichender Verbindung dem Handelseinflusse Con- stantinopels mehr und mehr entrückt werden und über Bassorah und den persischen Meerbusen mit Europa in directem Verkehr stehen. Wir sehen also auf zwei alten Völkerstrassen den Verkehr neu- belebt durch das moderne Mittel der Eisenbahnen. Die Via Egnatia, der dritte alte Zugang zu Lande nach Constantinopel, welcher im südlichen Theile des adriatischen Meeres, in Durazzo, dem alten 16*

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/143>, abgerufen am 28.11.2024.