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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891.

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Stelle zu gründen, welche ihm durch seine Hausgötter, deren Denksäulen er mit
sich genommen und in der Nähe der Insel in See geworfen hatte, gewiesen werden
würde. Diese Säulen verschwanden jedoch zunächst, ehe sie Land erreichten, und
die Männer Ingolf's landeten an der Südküste und blieben dort durch mehrere
Jahre, bis man Kunde erhielt, dass jene Götterbilder an einer anderen Stelle
ans Land geschwemmt worden seien. Nun zog Ingolf dahin und begründete die
obgenannte Stadt, welche seither der Hauptort Islands geblieben ist.

Reykjavik liegt unter 64° 9' nördl. Br. und 22° westl. L. v. Gr.
im Hintergrunde des sehr breiten und gegen Seegang wenig ge-
schützten Faxa-Fjordes, ziemlich geschützt. Es hat 1360 Einwohner,
meist nur einstöckige Häuser, aus Lavasteinen erbaut, oft mit Holz
verkleidet. Die Häuser, unter denen eigentlich nur das Parlamentshaus
hervorragt, während sogar das amtliche Wohnhaus des Gouverneurs
sich durch bescheidene Einfachheit auszeichnet, haben Holz-, meist
aber Grasdächer. Die Strassen sind gut und breit, ein freier Platz
ist geschmückt mit einem Monumente Thorwaldsen's. Die Lebens-
ansprüche der Isländer, welche noch die Sprache der Wikinger, das
Altnordische, reden und die jeder wenigstens lesen und schreiben
können, sind genügsam, wenn auch durch die Verhältnisse vielfach
diese Bescheidenheit auferlegt wird. Die Isländer, in deren Volks-
charakter sich noch die meisten germanischen Tugenden, besonders
die Ehrlichkeit, Treue, Offenheit bewahrt haben, zeigen auch darin
eine sehr lobenswerthe Eigenschaft, dass sie in der Art ihres Er-
werbes nicht wählerisch sind und sich je nach Umständen auch mit
einer Art des Verdienstes begnügen, der ihnen nicht immer gerade
der nächstliegende ist. Fischfang und Viehzucht bilden die Haupt-
beschäftigungszweige der Isländer. Namentlich sind es die Kabeljaus,
Häringe, Robben, Wale und Haifische, denen man besonderes
Augenmerk zuwendet. An dem felsigen Gestade von Reykjavik
werden überall Dorsche gereinigt, gesalzen und getrocknet. Auf den
Inseln und an den einsamen Küsten hausen Eidergänse, deren Nester
man der Eiderdunen wegen zweimal jährlich plündert. Die reichen
Wiesen des Landes, dem wegen der geringen Sommerwärme der
Ackerbau fehlt, nähren Schafe und kleine, aber ausdauernde und
flinke Pferde. Der Ausfall der Heuernte ist daher ebenso wichtig für
den Wohlstand des Landes, wie das Ergebniss des Fischfanges.

Als Hafen hat natürlich Reykjavik im Weltverkehre keine
Stellung, aber als Hauptstadt der in ihrer Art einzig dastehenden
Insel, deren Bewohner mit ihrer uralten Sprache, Cultur, ihrer Armut
und eigenartigen hohen Bildung wie eine Säule aus den Tagen der
Nibelungen in unsere Zeit hereinragen, verdient sie unsere Aufmerk-

Der atlantische Ocean.
Stelle zu gründen, welche ihm durch seine Hausgötter, deren Denksäulen er mit
sich genommen und in der Nähe der Insel in See geworfen hatte, gewiesen werden
würde. Diese Säulen verschwanden jedoch zunächst, ehe sie Land erreichten, und
die Männer Ingolf’s landeten an der Südküste und blieben dort durch mehrere
Jahre, bis man Kunde erhielt, dass jene Götterbilder an einer anderen Stelle
ans Land geschwemmt worden seien. Nun zog Ingolf dahin und begründete die
obgenannte Stadt, welche seither der Hauptort Islands geblieben ist.

Reykjavik liegt unter 64° 9′ nördl. Br. und 22° westl. L. v. Gr.
im Hintergrunde des sehr breiten und gegen Seegang wenig ge-
schützten Faxa-Fjordes, ziemlich geschützt. Es hat 1360 Einwohner,
meist nur einstöckige Häuser, aus Lavasteinen erbaut, oft mit Holz
verkleidet. Die Häuser, unter denen eigentlich nur das Parlamentshaus
hervorragt, während sogar das amtliche Wohnhaus des Gouverneurs
sich durch bescheidene Einfachheit auszeichnet, haben Holz-, meist
aber Grasdächer. Die Strassen sind gut und breit, ein freier Platz
ist geschmückt mit einem Monumente Thorwaldsen’s. Die Lebens-
ansprüche der Isländer, welche noch die Sprache der Wikinger, das
Altnordische, reden und die jeder wenigstens lesen und schreiben
können, sind genügsam, wenn auch durch die Verhältnisse vielfach
diese Bescheidenheit auferlegt wird. Die Isländer, in deren Volks-
charakter sich noch die meisten germanischen Tugenden, besonders
die Ehrlichkeit, Treue, Offenheit bewahrt haben, zeigen auch darin
eine sehr lobenswerthe Eigenschaft, dass sie in der Art ihres Er-
werbes nicht wählerisch sind und sich je nach Umständen auch mit
einer Art des Verdienstes begnügen, der ihnen nicht immer gerade
der nächstliegende ist. Fischfang und Viehzucht bilden die Haupt-
beschäftigungszweige der Isländer. Namentlich sind es die Kabeljaus,
Häringe, Robben, Wale und Haifische, denen man besonderes
Augenmerk zuwendet. An dem felsigen Gestade von Reykjavik
werden überall Dorsche gereinigt, gesalzen und getrocknet. Auf den
Inseln und an den einsamen Küsten hausen Eidergänse, deren Nester
man der Eiderdunen wegen zweimal jährlich plündert. Die reichen
Wiesen des Landes, dem wegen der geringen Sommerwärme der
Ackerbau fehlt, nähren Schafe und kleine, aber ausdauernde und
flinke Pferde. Der Ausfall der Heuernte ist daher ebenso wichtig für
den Wohlstand des Landes, wie das Ergebniss des Fischfanges.

Als Hafen hat natürlich Reykjavik im Weltverkehre keine
Stellung, aber als Hauptstadt der in ihrer Art einzig dastehenden
Insel, deren Bewohner mit ihrer uralten Sprache, Cultur, ihrer Armut
und eigenartigen hohen Bildung wie eine Säule aus den Tagen der
Nibelungen in unsere Zeit hereinragen, verdient sie unsere Aufmerk-

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[1098/1118] Der atlantische Ocean. Stelle zu gründen, welche ihm durch seine Hausgötter, deren Denksäulen er mit sich genommen und in der Nähe der Insel in See geworfen hatte, gewiesen werden würde. Diese Säulen verschwanden jedoch zunächst, ehe sie Land erreichten, und die Männer Ingolf’s landeten an der Südküste und blieben dort durch mehrere Jahre, bis man Kunde erhielt, dass jene Götterbilder an einer anderen Stelle ans Land geschwemmt worden seien. Nun zog Ingolf dahin und begründete die obgenannte Stadt, welche seither der Hauptort Islands geblieben ist. Reykjavik liegt unter 64° 9′ nördl. Br. und 22° westl. L. v. Gr. im Hintergrunde des sehr breiten und gegen Seegang wenig ge- schützten Faxa-Fjordes, ziemlich geschützt. Es hat 1360 Einwohner, meist nur einstöckige Häuser, aus Lavasteinen erbaut, oft mit Holz verkleidet. Die Häuser, unter denen eigentlich nur das Parlamentshaus hervorragt, während sogar das amtliche Wohnhaus des Gouverneurs sich durch bescheidene Einfachheit auszeichnet, haben Holz-, meist aber Grasdächer. Die Strassen sind gut und breit, ein freier Platz ist geschmückt mit einem Monumente Thorwaldsen’s. Die Lebens- ansprüche der Isländer, welche noch die Sprache der Wikinger, das Altnordische, reden und die jeder wenigstens lesen und schreiben können, sind genügsam, wenn auch durch die Verhältnisse vielfach diese Bescheidenheit auferlegt wird. Die Isländer, in deren Volks- charakter sich noch die meisten germanischen Tugenden, besonders die Ehrlichkeit, Treue, Offenheit bewahrt haben, zeigen auch darin eine sehr lobenswerthe Eigenschaft, dass sie in der Art ihres Er- werbes nicht wählerisch sind und sich je nach Umständen auch mit einer Art des Verdienstes begnügen, der ihnen nicht immer gerade der nächstliegende ist. Fischfang und Viehzucht bilden die Haupt- beschäftigungszweige der Isländer. Namentlich sind es die Kabeljaus, Häringe, Robben, Wale und Haifische, denen man besonderes Augenmerk zuwendet. An dem felsigen Gestade von Reykjavik werden überall Dorsche gereinigt, gesalzen und getrocknet. Auf den Inseln und an den einsamen Küsten hausen Eidergänse, deren Nester man der Eiderdunen wegen zweimal jährlich plündert. Die reichen Wiesen des Landes, dem wegen der geringen Sommerwärme der Ackerbau fehlt, nähren Schafe und kleine, aber ausdauernde und flinke Pferde. Der Ausfall der Heuernte ist daher ebenso wichtig für den Wohlstand des Landes, wie das Ergebniss des Fischfanges. Als Hafen hat natürlich Reykjavik im Weltverkehre keine Stellung, aber als Hauptstadt der in ihrer Art einzig dastehenden Insel, deren Bewohner mit ihrer uralten Sprache, Cultur, ihrer Armut und eigenartigen hohen Bildung wie eine Säule aus den Tagen der Nibelungen in unsere Zeit hereinragen, verdient sie unsere Aufmerk-

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 1098. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/1118>, abgerufen am 24.11.2024.