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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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sondern auch durch den Inhalt dessen, was er erlebt. Zum ple_069.002
inneren Erlebnis wird ihm nicht nur, was ihm persönlich im Glück und ple_069.003
Unglück widerfährt, sondern auch die großen allgemeinen Gedanken, die ple_069.004
geistigen Strömungen seiner Zeit. Sie erfüllen seine Dichtungen und ihre ple_069.005
Gestalten, weil sie in ihm selbst kraftvoll und lebendig sind, und auch ple_069.006
hier zwingt er sein Publikum in seine Art anzuschauen, zu denken und ple_069.007
zu fühlen hinein, selbst wenn es neue und fremdartige Gedanken und Anschauungen ple_069.008
sind. So wird der Dichter zum Lehrer der Weisheit, zum ple_069.009
Verkünder einer höheren Sittlichkeit. So zogen unsere Klassiker ihr Volk ple_069.010
zu sich empor, so ist in unseren Tagen Henrik Ibsen ein Lehrer tiefer ple_069.011
und ernster Lebensanschauungen geworden. Auf diese Weise entstehen ple_069.012
Dichtungen, deren Inhalt der Lebensinhalt ihrer Zeit und ihrer Nation ist. ple_069.013
Der Faust wäre uns Deutschen nicht das, was er uns ist, wenn er nicht ple_069.014
das tiefste Sehnen, die bitterste Verzweiflung und das höchste Glück des ple_069.015
modernen Menschen zum Ausdruck brächte.

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Die Höhe der Intention, der Reichtum an Ideen, die unmittelbar ausgesprochen ple_069.017
oder mittelbar verkörpert werden, die Weite der Anschauungen ple_069.018
und die Tiefe der Empfindungen, die in ihr zum Ausdruck kommen, sie ple_069.019
kennzeichnen den Wert eines solchen Werkes. Mit der künstlerischen Vollkommenheit ple_069.020
der Ausführung aber deckt sich diese inhaltliche Bedeutsamkeit ple_069.021
keineswegs. Wenn Gerhard Hauptmanns "Fuhrmann Henschel" technisch ple_069.022
vielleicht ebenso gut gemacht ist wie Goethes Tasso, vielleicht sogar ple_069.023
besser, so wird man beide Werke doch kaum in einem Atem nennen ple_069.024
mögen, so weit überragt Goethes Tragödie der Künstlerseele die des ple_069.025
braven und abergläubischen Mannes aus dem Volke an Tiefe und Bedeutsamkeit.

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So wird man zu dem Ergebnis kommen, daß der Gesamtwert einer ple_069.028
Dichtung von der künstlerischen Vollkommenheit ihrer Ausführung und ple_069.029
von der Bedeutsamkeit, dem Reichtum ihres Inhalts abhängt. Aber freilich ple_069.030
kann kein Zweifel darüber sein, daß der erste dieser Gesichtspunkte für ple_069.031
das ästhetische Werturteil entscheidender ist als der zweite. Die höchste ple_069.032
moralische Bedeutsamkeit, die edelste nationale oder soziale Tendenz vermag ple_069.033
die Stimmung, die Anschaulichkeit, das Zwingende und somit die ple_069.034
eigentliche künstlerische Wirkung nicht zu ersetzen. Und anderseits gibt ple_069.035
es Dichtungen von hohem künstlerischen Rang, die keine tieferen Beziehungen ple_069.036
und Perspektiven haben, so etwa Shakespeares Sommernachtstraum, ple_069.037
Kleists zerbrochener Krug, und überhaupt eine große Anzahl von ple_069.038
Lustspielen der Weltliteratur.

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Eben dieses Verhältnis ist es, was Schiller in dem schon einmal angeführten, ple_069.040
höchst wichtigen Brief an Goethe vom 27. März 1801 zum Ausdruck ple_069.041
bringt. "Jeder, der imstande ist, seinen Empfindungszustand in ein ple_069.042
Objekt zu legen, so daß dieses Objekt mich nötigt, in jenen Empfindungszustand ple_069.043
überzugehen, folglich lebendig auf mich wirkt, heiße ich einen

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sondern auch durch den Inhalt dessen, was er erlebt. Zum ple_069.002
inneren Erlebnis wird ihm nicht nur, was ihm persönlich im Glück und ple_069.003
Unglück widerfährt, sondern auch die großen allgemeinen Gedanken, die ple_069.004
geistigen Strömungen seiner Zeit. Sie erfüllen seine Dichtungen und ihre ple_069.005
Gestalten, weil sie in ihm selbst kraftvoll und lebendig sind, und auch ple_069.006
hier zwingt er sein Publikum in seine Art anzuschauen, zu denken und ple_069.007
zu fühlen hinein, selbst wenn es neue und fremdartige Gedanken und Anschauungen ple_069.008
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zu sich empor, so ist in unseren Tagen Henrik Ibsen ein Lehrer tiefer ple_069.011
und ernster Lebensanschauungen geworden. Auf diese Weise entstehen ple_069.012
Dichtungen, deren Inhalt der Lebensinhalt ihrer Zeit und ihrer Nation ist. ple_069.013
Der Faust wäre uns Deutschen nicht das, was er uns ist, wenn er nicht ple_069.014
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modernen Menschen zum Ausdruck brächte.

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Die Höhe der Intention, der Reichtum an Ideen, die unmittelbar ausgesprochen ple_069.017
oder mittelbar verkörpert werden, die Weite der Anschauungen ple_069.018
und die Tiefe der Empfindungen, die in ihr zum Ausdruck kommen, sie ple_069.019
kennzeichnen den Wert eines solchen Werkes. Mit der künstlerischen Vollkommenheit ple_069.020
der Ausführung aber deckt sich diese inhaltliche Bedeutsamkeit ple_069.021
keineswegs. Wenn Gerhard Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“ technisch ple_069.022
vielleicht ebenso gut gemacht ist wie Goethes Tasso, vielleicht sogar ple_069.023
besser, so wird man beide Werke doch kaum in einem Atem nennen ple_069.024
mögen, so weit überragt Goethes Tragödie der Künstlerseele die des ple_069.025
braven und abergläubischen Mannes aus dem Volke an Tiefe und Bedeutsamkeit.

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So wird man zu dem Ergebnis kommen, daß der Gesamtwert einer ple_069.028
Dichtung von der künstlerischen Vollkommenheit ihrer Ausführung und ple_069.029
von der Bedeutsamkeit, dem Reichtum ihres Inhalts abhängt. Aber freilich ple_069.030
kann kein Zweifel darüber sein, daß der erste dieser Gesichtspunkte für ple_069.031
das ästhetische Werturteil entscheidender ist als der zweite. Die höchste ple_069.032
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die Stimmung, die Anschaulichkeit, das Zwingende und somit die ple_069.034
eigentliche künstlerische Wirkung nicht zu ersetzen. Und anderseits gibt ple_069.035
es Dichtungen von hohem künstlerischen Rang, die keine tieferen Beziehungen ple_069.036
und Perspektiven haben, so etwa Shakespeares Sommernachtstraum, ple_069.037
Kleists zerbrochener Krug, und überhaupt eine große Anzahl von ple_069.038
Lustspielen der Weltliteratur.

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Eben dieses Verhältnis ist es, was Schiller in dem schon einmal angeführten, ple_069.040
höchst wichtigen Brief an Goethe vom 27. März 1801 zum Ausdruck ple_069.041
bringt. „Jeder, der imstande ist, seinen Empfindungszustand in ein ple_069.042
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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/83>, abgerufen am 27.11.2024.