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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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anderen Lebensgebieten äußert. Auch hier wird man nicht anstehen, dem ple_068.002
künstlerischen Empfinden der höheren Kultur den höheren Wert beizumessen, ple_068.003
zumal seitdem die romantischen Vorstellungen von der Volksdichtung, ple_068.004
ihrem Wesen und Wert verblaßt und aufgegeben sind. Aber ple_068.005
auch hier wird man in der Allgemeinheit der Wirkung, wenn auch nicht ple_068.006
den einzigen, so doch einen bedeutsamen Wertmesser zu sehen haben. ple_068.007
Rohe und grobe Effekte, die auf ein naives Publikum Eindruck machen, ple_068.008
versagen einer höheren Stufe der Bildung und des Geschmacks gegenüber; ple_068.009
und vieles, was nach seinen Voraussetzungen und der Art der angewandten ple_068.010
Mittel nur auf verfeinerte Leser und Hörer berechnet ist, geht naturgemäß ple_068.011
an den breiteren Schichten des Volkes wirkungslos vorüber. Dennoch ple_068.012
haben die höchsten Dichtungen aller Zeiten wohl stets auf die ganze ple_068.013
Nation gewirkt, in der und für die sie entstanden sind: Homer und Tasso ple_068.014
nicht minder wie der erste Teil des Faust und die meisten Schillerschen ple_068.015
Dramen, und wo, wie etwa in Deutschland gegen Ende des 17. Jahrhunderts, ple_068.016
die beiden Sphären des Geschmacks allzu schroff und ohne Vermittlung ple_068.017
auseinanderklaffen, haben wir ein sicheres Zeichen künstlerischen Niedergangs ple_068.018
vor uns. --

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Stimmung, innere Übereinstimmung und Widerspruchslosigkeit, anschaulich ple_068.020
bildende Kraft: in diesen Forderungen hat die Poetik drei Gesichtspunkte ple_068.021
ästhetischer Natur, nach denen sie jede Dichtung auf ihren ple_068.022
künstlerischen Wert hin zu beurteilen imstande ist. Freilich können wir -- ple_068.023
nach dem Inhalte der ersten Abschnitte ist das selbstverständlich -- nicht ple_068.024
hoffen noch beanspruchen, hieraus deduktive Vorschriften darüber ableiten ple_068.025
zu wollen, wie der Dichter seine Kunstmittel verwenden und seine Wirkung ple_068.026
erreichen kann. Wohl aber ist es möglich, mit Hilfe dieser Gesichtspunkte ple_068.027
festzustellen, worauf im einzelnen Falle die Wirkung eines Dichtwerks beruht ple_068.028
und warum sie in einem anderen versagt. Wir werden da zunächst ple_068.029
entscheiden können, ob die Wirkungen durch künstlerische Mittel oder ple_068.030
durch bloßen Nervenreiz erreicht sind. Das letztere geschieht namentlich ple_068.031
von der Bühne herab nicht selten; aber nur im ersteren Falle haben wir ple_068.032
Kunstwerke vor uns, deren Analyse Aufgabe der Poetik ist. Eine solche ple_068.033
Analyse zeigt uns dann die Eigenart der dichterischen Formen und Kunstmittel ple_068.034
sowie ihre Verwendung und sie begründet somit ein objektives ple_068.035
ästhetisches Werturteil.

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Das Werturteil, das auf diese Weise entsteht, ist im engsten Sinne ple_068.037
ästhetisch, ja es ist technischer Natur. Nun aber gibt es noch einen ple_068.038
zweiten, anders gearteten Weg, nach dem man dichterische Werke einschätzt: ple_068.039
er beruht auf der Tiefe und Allgemeinheit der Gedanken, die sie enthält, ple_068.040
auf ihrem Zusammenhang mit den Lebensinteressen und den Kulturströmungen ple_068.041
der Zeit und der Nation, ja der Menschheit überhaupt. Denn ple_068.042
der Genius unterscheidet sich von geringeren Geistern nicht allein durch ple_068.043
das Können, nicht bloß durch die Fähigkeit, seine inneren Erlebnisse wiederzugeben,

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zumal seitdem die romantischen Vorstellungen von der Volksdichtung, ple_068.004
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und warum sie in einem anderen versagt. Wir werden da zunächst ple_068.029
entscheiden können, ob die Wirkungen durch künstlerische Mittel oder ple_068.030
durch bloßen Nervenreiz erreicht sind. Das letztere geschieht namentlich ple_068.031
von der Bühne herab nicht selten; aber nur im ersteren Falle haben wir ple_068.032
Kunstwerke vor uns, deren Analyse Aufgabe der Poetik ist. Eine solche ple_068.033
Analyse zeigt uns dann die Eigenart der dichterischen Formen und Kunstmittel ple_068.034
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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/82>, abgerufen am 24.11.2024.