Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_065.001 ple_065.015 ple_065.035 ple_065.001 ple_065.015 ple_065.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0079" n="65"/><lb n="ple_065.001"/> realistischem Boden bewegt. Über wie viele äußere und innere Unwahrscheinlichkeiten <lb n="ple_065.002"/> werden wir durch die hinreißende Gewalt der Handlung <lb n="ple_065.003"/> in Schillers Kabale und Liebe hinweggetäuscht. Dahingegen regt <lb n="ple_065.004"/> sich etwa in Hebbels Maria Magdalena, wo zwar der Held, der Meister <lb n="ple_065.005"/> Anton, mit genialer Anschauung gesehen, die Handlung aber, wenn auch <lb n="ple_065.006"/> mit klügster Berechnung, erdacht ist, gegen das Tun und Lassen der <lb n="ple_065.007"/> meisten Personen fast beständig ein leiser innerer Widerspruch, obwohl <lb n="ple_065.008"/> wir bei genauerer Überlegung überall zugeben müssen, daß es keinen Punkt <lb n="ple_065.009"/> in dem Drama gibt, der an sich unmöglich wäre oder aus der Idee des <lb n="ple_065.010"/> Ganzen nicht folgerichtig entspränge. Etwas Ähnliches ist am Schluß der <lb n="ple_065.011"/> Emilia Galotti der Fall, welchem, soweit die Handlungsweise des Odoardo <lb n="ple_065.012"/> in Frage kommt, das Zwingende fehlt, obschon der Dichter jeden Zug <lb n="ple_065.013"/> dieses Charakters wie seiner Lage in der scharfsinnigsten Weise auf diesen <lb n="ple_065.014"/> Schluß hin berechnet hat.</p> <p><lb n="ple_065.015"/> Man sieht, auf dem Gebiete der Kunst ist das, was man als möglich <lb n="ple_065.016"/> oder unmöglich bezeichnen kann, nicht durch eine absolute Grenze <lb n="ple_065.017"/> zu scheiden. Gleichwohl gibt es Schranken, die auch dem Genius gesteckt <lb n="ple_065.018"/> sind. Mindestens <hi rendition="#g">einer</hi> Bedingung muß auch er sich unterwerfen: seine <lb n="ple_065.019"/> Intentionen müssen überhaupt durchführbar und sie müssen mit künstlerischen <lb n="ple_065.020"/> Mitteln durchführbar sein. Schwebt ihm etwas in künstlerischer <lb n="ple_065.021"/> oder inhaltlicher Hinsicht Unmögliches vor, so ist es klar, daß die Ausführung <lb n="ple_065.022"/> hinter der Absicht zurückbleiben muß und ein vollkommenes <lb n="ple_065.023"/> Kunstwerk nicht entstehen kann. <hi rendition="#g">Inhaltlich,</hi> d. h. soviel wie <hi rendition="#g">psychologisch</hi> <lb n="ple_065.024"/> unmöglich, ist alles, was den Grundbedingungen der menschlichen <lb n="ple_065.025"/> Natur und besonders des Willenslebens widerspricht; so z. B. jene <lb n="ple_065.026"/> plötzlichen Bekehrungen von Toren oder Bösewichtern, von denen oben <lb n="ple_065.027"/> die Rede war. Wenn Schiller der sittlichen Idee zuliebe, die er zur Anschauung <lb n="ple_065.028"/> bringen will, seinen Max, seine Thekla gegen die menschliche <lb n="ple_065.029"/> Natur sich entscheiden und handeln läßt, so vermag er das nicht glaubhaft <lb n="ple_065.030"/> noch anschaulich zu machen und er schädigt selbst die Wirkung dieser <lb n="ple_065.031"/> Gestalten. Und in der berühmten Werbeszene Richards III. am Sarge König <lb n="ple_065.032"/> Heinrichs zeigt sich, daß auch Shakespeare bisweilen etwas gewollt hat, <lb n="ple_065.033"/> was er nicht durchführen konnte, weil es den Bedingungen der Menschennatur <lb n="ple_065.034"/> widerspricht.</p> <p><lb n="ple_065.035"/> Und ebenso verhält es sich mit den rein <hi rendition="#g">künstlerischen</hi> Bedingungen <lb n="ple_065.036"/> der Wirkung. Schillers gewaltige Geisteskraft vermochte in einem <lb n="ple_065.037"/> Gedichte wie „Das Ideal und das Leben“ abstrakte Gedankenmassen, die <lb n="ple_065.038"/> bei jedem anderen blutleer und verstandesmäßig hätten bleiben müssen, <lb n="ple_065.039"/> mit Wärme und Leben zu erfüllen und zum tief wirkenden Kunstwerk zu <lb n="ple_065.040"/> gestalten. Allein das geplante Gegenstück „Die Vermählung des Herakles“ <lb n="ple_065.041"/> vermochte er nicht auszuführen. „Denken Sie sich den Genuß,“ hatte er <lb n="ple_065.042"/> an Humboldt geschrieben, „in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche <lb n="ple_065.043"/> ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen. — Keine Schatten, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [65/0079]
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realistischem Boden bewegt. Über wie viele äußere und innere Unwahrscheinlichkeiten ple_065.002
werden wir durch die hinreißende Gewalt der Handlung ple_065.003
in Schillers Kabale und Liebe hinweggetäuscht. Dahingegen regt ple_065.004
sich etwa in Hebbels Maria Magdalena, wo zwar der Held, der Meister ple_065.005
Anton, mit genialer Anschauung gesehen, die Handlung aber, wenn auch ple_065.006
mit klügster Berechnung, erdacht ist, gegen das Tun und Lassen der ple_065.007
meisten Personen fast beständig ein leiser innerer Widerspruch, obwohl ple_065.008
wir bei genauerer Überlegung überall zugeben müssen, daß es keinen Punkt ple_065.009
in dem Drama gibt, der an sich unmöglich wäre oder aus der Idee des ple_065.010
Ganzen nicht folgerichtig entspränge. Etwas Ähnliches ist am Schluß der ple_065.011
Emilia Galotti der Fall, welchem, soweit die Handlungsweise des Odoardo ple_065.012
in Frage kommt, das Zwingende fehlt, obschon der Dichter jeden Zug ple_065.013
dieses Charakters wie seiner Lage in der scharfsinnigsten Weise auf diesen ple_065.014
Schluß hin berechnet hat.
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Man sieht, auf dem Gebiete der Kunst ist das, was man als möglich ple_065.016
oder unmöglich bezeichnen kann, nicht durch eine absolute Grenze ple_065.017
zu scheiden. Gleichwohl gibt es Schranken, die auch dem Genius gesteckt ple_065.018
sind. Mindestens einer Bedingung muß auch er sich unterwerfen: seine ple_065.019
Intentionen müssen überhaupt durchführbar und sie müssen mit künstlerischen ple_065.020
Mitteln durchführbar sein. Schwebt ihm etwas in künstlerischer ple_065.021
oder inhaltlicher Hinsicht Unmögliches vor, so ist es klar, daß die Ausführung ple_065.022
hinter der Absicht zurückbleiben muß und ein vollkommenes ple_065.023
Kunstwerk nicht entstehen kann. Inhaltlich, d. h. soviel wie psychologisch ple_065.024
unmöglich, ist alles, was den Grundbedingungen der menschlichen ple_065.025
Natur und besonders des Willenslebens widerspricht; so z. B. jene ple_065.026
plötzlichen Bekehrungen von Toren oder Bösewichtern, von denen oben ple_065.027
die Rede war. Wenn Schiller der sittlichen Idee zuliebe, die er zur Anschauung ple_065.028
bringen will, seinen Max, seine Thekla gegen die menschliche ple_065.029
Natur sich entscheiden und handeln läßt, so vermag er das nicht glaubhaft ple_065.030
noch anschaulich zu machen und er schädigt selbst die Wirkung dieser ple_065.031
Gestalten. Und in der berühmten Werbeszene Richards III. am Sarge König ple_065.032
Heinrichs zeigt sich, daß auch Shakespeare bisweilen etwas gewollt hat, ple_065.033
was er nicht durchführen konnte, weil es den Bedingungen der Menschennatur ple_065.034
widerspricht.
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Und ebenso verhält es sich mit den rein künstlerischen Bedingungen ple_065.036
der Wirkung. Schillers gewaltige Geisteskraft vermochte in einem ple_065.037
Gedichte wie „Das Ideal und das Leben“ abstrakte Gedankenmassen, die ple_065.038
bei jedem anderen blutleer und verstandesmäßig hätten bleiben müssen, ple_065.039
mit Wärme und Leben zu erfüllen und zum tief wirkenden Kunstwerk zu ple_065.040
gestalten. Allein das geplante Gegenstück „Die Vermählung des Herakles“ ple_065.041
vermochte er nicht auszuführen. „Denken Sie sich den Genuß,“ hatte er ple_065.042
an Humboldt geschrieben, „in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche ple_065.043
ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen. — Keine Schatten,
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