Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_064.001 ple_064.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0078" n="64"/> <p><lb n="ple_064.001"/> Aber Widerspruchslosigkeit und innere Übereinstimmung ist doch <lb n="ple_064.002"/> mehr eine Forderung negativen Inhalts. Die positive Grundlage der dichterischen <lb n="ple_064.003"/> Wirkung im Epos und im Drama ist immer die, daß der <lb n="ple_064.004"/> Dichter, der uns eine gegenständliche Welt, Menschen und Handlungen <lb n="ple_064.005"/> schaffen will, sie mit bildender Kraft anschaulich zu machen vermag, <lb n="ple_064.006"/> anschaulich nach ihren äußeren Verhältnissen, noch mehr aber in der <lb n="ple_064.007"/> Lebendigkeit des seelischen Geschehens. Worauf diese Kraft der Veranschaulichung <lb n="ple_064.008"/> beruht, darüber können uns im einzelnen erst die folgenden <lb n="ple_064.009"/> Untersuchungen belehren; so viel aber wird man immerhin vorgreifend <lb n="ple_064.010"/> sagen können, es ist erstens die Gabe des inneren Schauens und der lebendig <lb n="ple_064.011"/> gestaltenden Phantasie und zweitens das sprachschöpferische Vermögen, <lb n="ple_064.012"/> die Fähigkeit, das innere Erlebnis in Worten zum Ausdruck zu bringen, wodurch <lb n="ple_064.013"/> der Dichter unsere Phantasie zwingt, zu sehen und zu gestalten, <lb n="ple_064.014"/> was er gesehen und gestaltet hat. Hier ist der Brennpunkt seiner schöpferischen <lb n="ple_064.015"/> Kraft und hier liegen auch die stärksten Unterschiede im Können, <lb n="ple_064.016"/> hier scheidet sich am deutlichsten der Genius von dem bloßen Talent. Er <lb n="ple_064.017"/> zwingt uns, an seine Welt und ihre Gesetze, an die Absichten und Taten <lb n="ple_064.018"/> seiner Menschen zu glauben, auch da, wo unser Verstand widerstreben <lb n="ple_064.019"/> möchte, während uns ein schwächerer Bildner auch da nicht immer überzeugt, <lb n="ple_064.020"/> wo wir verstandesmäßig zugeben müssen, daß er das Richtige getroffen <lb n="ple_064.021"/> hat. Ein rationalistisch gebildetes, von allem Wunderglauben freies <lb n="ple_064.022"/> Publikum vermag er in die Welt der Wunder und Gespenster zu versetzen, <lb n="ple_064.023"/> nicht weil, wie Lessing in der Dramaturgie meinte, der Samen, sie zu <lb n="ple_064.024"/> glauben, in uns allen läge, sondern weil sie wirklich <hi rendition="#g">sind,</hi> in seiner Phantasie <lb n="ple_064.025"/> nämlich und in der unseren, die er beherrscht, weil er sie erlebt und <lb n="ple_064.026"/> gesehen hat und daher auch uns zwingt, sie zu sehen. Mit Macbeth erblicken <lb n="ple_064.027"/> wir schaudernd, wie der tote Banquo die blutgen Locken schüttelt. <lb n="ple_064.028"/> Solange wir den Geist von Hamlets Vater reden hören, glauben wir an <lb n="ple_064.029"/> Hölle und Fegefeuer, an „die Stunde, wo Grüfte gähnen und Gespenster <lb n="ple_064.030"/> schreiten“, nicht minder wie an die sehr lebenstreue Schilderung des Hofgesindes <lb n="ple_064.031"/> und seines wurmstichigen Königs. Wir nehmen die Erscheinung <lb n="ple_064.032"/> des Erdgeists im Faust ebenso widerspruchslos auf, wie die realistische <lb n="ple_064.033"/> Schilderung der zechenden Studenten; und Schiller, dessen starke Seite <lb n="ple_064.034"/> das Überirdische sonst nicht ist, zwingt uns durch die Worte des Gebets <lb n="ple_064.035"/> seiner Jungfrau mit einer Suggestionskraft ohnegleichen, das Wunder mit <lb n="ple_064.036"/> seiner Heldin zu erwarten, zu fordern, und als es eintritt, natürlich zu finden. <lb n="ple_064.037"/> Aber wie kalt lassen uns schon die meisten Geistererscheinungen im zweiten <lb n="ple_064.038"/> Teil des Faust, den der Dichter mit absterbender Gestaltungskraft geschaffen. <lb n="ple_064.039"/> Wie herrscht z. B. in der Grablegungsszene so gar nichts von dem Grauen <lb n="ple_064.040"/> der mittelalterlichen Legende, die sie verkörpert, — über die zum Glück <lb n="ple_064.041"/> spärlichen Versuche dieser Art bei neueren Dichtern gar nicht zu reden. <lb n="ple_064.042"/> Und ein entsprechender Unterschied der dichterischen Kraft und ihrer <lb n="ple_064.043"/> Wirkung zeigt sich, auch wenn die Dichtung sich ganz auf einheitlichem </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [64/0078]
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Aber Widerspruchslosigkeit und innere Übereinstimmung ist doch ple_064.002
mehr eine Forderung negativen Inhalts. Die positive Grundlage der dichterischen ple_064.003
Wirkung im Epos und im Drama ist immer die, daß der ple_064.004
Dichter, der uns eine gegenständliche Welt, Menschen und Handlungen ple_064.005
schaffen will, sie mit bildender Kraft anschaulich zu machen vermag, ple_064.006
anschaulich nach ihren äußeren Verhältnissen, noch mehr aber in der ple_064.007
Lebendigkeit des seelischen Geschehens. Worauf diese Kraft der Veranschaulichung ple_064.008
beruht, darüber können uns im einzelnen erst die folgenden ple_064.009
Untersuchungen belehren; so viel aber wird man immerhin vorgreifend ple_064.010
sagen können, es ist erstens die Gabe des inneren Schauens und der lebendig ple_064.011
gestaltenden Phantasie und zweitens das sprachschöpferische Vermögen, ple_064.012
die Fähigkeit, das innere Erlebnis in Worten zum Ausdruck zu bringen, wodurch ple_064.013
der Dichter unsere Phantasie zwingt, zu sehen und zu gestalten, ple_064.014
was er gesehen und gestaltet hat. Hier ist der Brennpunkt seiner schöpferischen ple_064.015
Kraft und hier liegen auch die stärksten Unterschiede im Können, ple_064.016
hier scheidet sich am deutlichsten der Genius von dem bloßen Talent. Er ple_064.017
zwingt uns, an seine Welt und ihre Gesetze, an die Absichten und Taten ple_064.018
seiner Menschen zu glauben, auch da, wo unser Verstand widerstreben ple_064.019
möchte, während uns ein schwächerer Bildner auch da nicht immer überzeugt, ple_064.020
wo wir verstandesmäßig zugeben müssen, daß er das Richtige getroffen ple_064.021
hat. Ein rationalistisch gebildetes, von allem Wunderglauben freies ple_064.022
Publikum vermag er in die Welt der Wunder und Gespenster zu versetzen, ple_064.023
nicht weil, wie Lessing in der Dramaturgie meinte, der Samen, sie zu ple_064.024
glauben, in uns allen läge, sondern weil sie wirklich sind, in seiner Phantasie ple_064.025
nämlich und in der unseren, die er beherrscht, weil er sie erlebt und ple_064.026
gesehen hat und daher auch uns zwingt, sie zu sehen. Mit Macbeth erblicken ple_064.027
wir schaudernd, wie der tote Banquo die blutgen Locken schüttelt. ple_064.028
Solange wir den Geist von Hamlets Vater reden hören, glauben wir an ple_064.029
Hölle und Fegefeuer, an „die Stunde, wo Grüfte gähnen und Gespenster ple_064.030
schreiten“, nicht minder wie an die sehr lebenstreue Schilderung des Hofgesindes ple_064.031
und seines wurmstichigen Königs. Wir nehmen die Erscheinung ple_064.032
des Erdgeists im Faust ebenso widerspruchslos auf, wie die realistische ple_064.033
Schilderung der zechenden Studenten; und Schiller, dessen starke Seite ple_064.034
das Überirdische sonst nicht ist, zwingt uns durch die Worte des Gebets ple_064.035
seiner Jungfrau mit einer Suggestionskraft ohnegleichen, das Wunder mit ple_064.036
seiner Heldin zu erwarten, zu fordern, und als es eintritt, natürlich zu finden. ple_064.037
Aber wie kalt lassen uns schon die meisten Geistererscheinungen im zweiten ple_064.038
Teil des Faust, den der Dichter mit absterbender Gestaltungskraft geschaffen. ple_064.039
Wie herrscht z. B. in der Grablegungsszene so gar nichts von dem Grauen ple_064.040
der mittelalterlichen Legende, die sie verkörpert, — über die zum Glück ple_064.041
spärlichen Versuche dieser Art bei neueren Dichtern gar nicht zu reden. ple_064.042
Und ein entsprechender Unterschied der dichterischen Kraft und ihrer ple_064.043
Wirkung zeigt sich, auch wenn die Dichtung sich ganz auf einheitlichem
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