Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_060.001 ple_060.013 ple_060.001 ple_060.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0074" n="60"/><lb n="ple_060.001"/> Charakteristisch ist die Art, wie Aristophanes den Euripides bekämpft <lb n="ple_060.002"/> und verurteilt; der innere Zusammenhang zwischen den <hi rendition="#g">Fröschen</hi> <lb n="ple_060.003"/> und den <hi rendition="#g">Wolken</hi> des großen Satirikers liegt deutlich zutage. In der neuen <lb n="ple_060.004"/> Kunst sieht er den Ausdruck eines neuen Zeitalters und seiner Gesinnung, <lb n="ple_060.005"/> wie ihm die Dichtung des Äschylos die untergegangene große Epoche <lb n="ple_060.006"/> Athens verkörpert. Im Athen des 5., wie im Paris des 17. und 18. Jahrhunderts <lb n="ple_060.007"/> freilich wird die Einseitigkeit des künstlerischen Ideals und der <lb n="ple_060.008"/> kritischen Wertung verstärkt durch nationale Geschmacksrichtungen und <lb n="ple_060.009"/> technische Konventionen, wie sie unseren Klassikern fremd waren; aber <lb n="ple_060.010"/> das Entscheidende ist doch, daß die Überlieferung nicht bloß äußerlicher <lb n="ple_060.011"/> Natur war, sondern einer ganz bestimmten, ihrem Zeitalter angehörenden <lb n="ple_060.012"/> Welt- und Wertanschauung entsprang.</p> <p><lb n="ple_060.013"/> Und hier liegt nun der eigentliche und letzte Grund, warum wir nicht <lb n="ple_060.014"/> zu jenem Standpunkt oder einem ihm verwandten zurückkehren können, <lb n="ple_060.015"/> warum eine wertende und normgebende Poetik im Sinne unserer Klassiker <lb n="ple_060.016"/> heute unmöglich ist. Die Poesie der Gegenwart trägt keinen einheitlich bestimmten <lb n="ple_060.017"/> Charakter; sie ist nicht mehr der Ausdruck einer einheitlichen <lb n="ple_060.018"/> Weltanschauung, sondern fließt aus verschiedenen, ja entgegengesetzten <lb n="ple_060.019"/> Lebensauffassungen, die mit gleicher Notwendigkeit und gleicher Berechtigung <lb n="ple_060.020"/> nach künstlerischem Ausdruck suchen und diesen naturgemäß in ebenso <lb n="ple_060.021"/> verschiedenen Stilrichtungen finden. Dasselbe Publikum wird heute von <lb n="ple_060.022"/> dem herben Realismus Ibsenscher Menschendarstellung erschüttert und <lb n="ple_060.023"/> morgen von dem leidenschaftlichen Überschwang und der phantastischen <lb n="ple_060.024"/> Größe Richard Wagnerscher Heroengestalten hingerissen. Ja, ein und derselbe <lb n="ple_060.025"/> Dichter schildert heute mit den stärksten Farben der Wirklichkeit und <lb n="ple_060.026"/> mit der Technik des ausgesprochensten Naturalismus die soziale Bewegung <lb n="ple_060.027"/> der verhungernden Weber, um uns morgen phantastische Märchengestalten <lb n="ple_060.028"/> in den Formen romantischer Dichtung vorzugaukeln. Mag man in diesem <lb n="ple_060.029"/> bunten Wechsel künstlerischen Reichtum bewundern, mag man Schwäche <lb n="ple_060.030"/> und Unsicherheit darin tadeln, an der Tatsache selbst ist nicht zu zweifeln, <lb n="ple_060.031"/> daß die schöpferischen Geister unserer Zeit in verschiedenen Richtungen <lb n="ple_060.032"/> gehen, und woher könnten wir das Recht oder den Mut nehmen, <hi rendition="#g">eine</hi> <lb n="ple_060.033"/> von diesen als die richtige, die andere als falsch zu bezeichnen? Vielleicht <lb n="ple_060.034"/> daß das Lebenskräftige und Echte, was neben manchem Schwächlichen <lb n="ple_060.035"/> und Gemachten in den verschiedenen Richtungen steckt, sich im Laufe <lb n="ple_060.036"/> der nächsten Menschenalter zu einer höheren Einheit zusammenschließen <lb n="ple_060.037"/> und eine neue, in sich abgerundete Kunst als den Ausdruck einer neuen <lb n="ple_060.038"/> und einheitlichen Lebensanschauung hervorbringen wird; mancherlei Anzeichen <lb n="ple_060.039"/> deuten auf eine solche Entwicklung hin. Dann würde aus dem <lb n="ple_060.040"/> Ideal der neuen Kunst auch wieder eine neue Art der Wertung hervorgehen. <lb n="ple_060.041"/> Aber auch dann wird die <hi rendition="#g">wissenschaftliche</hi> Poetik, nachdem sie <lb n="ple_060.042"/> einmal induktive und psychologische Betrachtungsart geworden ist, niemals <lb n="ple_060.043"/> wieder einseitig an den Gesetzen und Normen der neuen Kunst die Erscheinungen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [60/0074]
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Charakteristisch ist die Art, wie Aristophanes den Euripides bekämpft ple_060.002
und verurteilt; der innere Zusammenhang zwischen den Fröschen ple_060.003
und den Wolken des großen Satirikers liegt deutlich zutage. In der neuen ple_060.004
Kunst sieht er den Ausdruck eines neuen Zeitalters und seiner Gesinnung, ple_060.005
wie ihm die Dichtung des Äschylos die untergegangene große Epoche ple_060.006
Athens verkörpert. Im Athen des 5., wie im Paris des 17. und 18. Jahrhunderts ple_060.007
freilich wird die Einseitigkeit des künstlerischen Ideals und der ple_060.008
kritischen Wertung verstärkt durch nationale Geschmacksrichtungen und ple_060.009
technische Konventionen, wie sie unseren Klassikern fremd waren; aber ple_060.010
das Entscheidende ist doch, daß die Überlieferung nicht bloß äußerlicher ple_060.011
Natur war, sondern einer ganz bestimmten, ihrem Zeitalter angehörenden ple_060.012
Welt- und Wertanschauung entsprang.
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Und hier liegt nun der eigentliche und letzte Grund, warum wir nicht ple_060.014
zu jenem Standpunkt oder einem ihm verwandten zurückkehren können, ple_060.015
warum eine wertende und normgebende Poetik im Sinne unserer Klassiker ple_060.016
heute unmöglich ist. Die Poesie der Gegenwart trägt keinen einheitlich bestimmten ple_060.017
Charakter; sie ist nicht mehr der Ausdruck einer einheitlichen ple_060.018
Weltanschauung, sondern fließt aus verschiedenen, ja entgegengesetzten ple_060.019
Lebensauffassungen, die mit gleicher Notwendigkeit und gleicher Berechtigung ple_060.020
nach künstlerischem Ausdruck suchen und diesen naturgemäß in ebenso ple_060.021
verschiedenen Stilrichtungen finden. Dasselbe Publikum wird heute von ple_060.022
dem herben Realismus Ibsenscher Menschendarstellung erschüttert und ple_060.023
morgen von dem leidenschaftlichen Überschwang und der phantastischen ple_060.024
Größe Richard Wagnerscher Heroengestalten hingerissen. Ja, ein und derselbe ple_060.025
Dichter schildert heute mit den stärksten Farben der Wirklichkeit und ple_060.026
mit der Technik des ausgesprochensten Naturalismus die soziale Bewegung ple_060.027
der verhungernden Weber, um uns morgen phantastische Märchengestalten ple_060.028
in den Formen romantischer Dichtung vorzugaukeln. Mag man in diesem ple_060.029
bunten Wechsel künstlerischen Reichtum bewundern, mag man Schwäche ple_060.030
und Unsicherheit darin tadeln, an der Tatsache selbst ist nicht zu zweifeln, ple_060.031
daß die schöpferischen Geister unserer Zeit in verschiedenen Richtungen ple_060.032
gehen, und woher könnten wir das Recht oder den Mut nehmen, eine ple_060.033
von diesen als die richtige, die andere als falsch zu bezeichnen? Vielleicht ple_060.034
daß das Lebenskräftige und Echte, was neben manchem Schwächlichen ple_060.035
und Gemachten in den verschiedenen Richtungen steckt, sich im Laufe ple_060.036
der nächsten Menschenalter zu einer höheren Einheit zusammenschließen ple_060.037
und eine neue, in sich abgerundete Kunst als den Ausdruck einer neuen ple_060.038
und einheitlichen Lebensanschauung hervorbringen wird; mancherlei Anzeichen ple_060.039
deuten auf eine solche Entwicklung hin. Dann würde aus dem ple_060.040
Ideal der neuen Kunst auch wieder eine neue Art der Wertung hervorgehen. ple_060.041
Aber auch dann wird die wissenschaftliche Poetik, nachdem sie ple_060.042
einmal induktive und psychologische Betrachtungsart geworden ist, niemals ple_060.043
wieder einseitig an den Gesetzen und Normen der neuen Kunst die Erscheinungen
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