Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_058.001 ple_058.010 ple_058.027 ple_058.001 ple_058.010 ple_058.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0072" n="58"/><lb n="ple_058.001"/> zu Hilfe kommen müssen, und der Interpret darf hier den Literarhistoriker <lb n="ple_058.002"/> niemals aus den Augen verlieren. Aber auch das Umgekehrte <lb n="ple_058.003"/> ist notwendig, wie Scherers Beurteilung des ersten Faustmonologs (Aufsätze <lb n="ple_058.004"/> über Goethe S. 309 ff.) zeigt, die durch Erich Schmidts Herausgabe des <lb n="ple_058.005"/> Urfaust gründlich widerlegt ist. Auch was äußerlich zu verschiedenen <lb n="ple_058.006"/> Zeiten entstanden ist, kann aus einer einheitlichen Anschauung und Absicht <lb n="ple_058.007"/> heraus entstanden sein, und ein prinzipielles und allzu scharfsinniges Suchen <lb n="ple_058.008"/> nach Diskrepanzen und Nähten, eine Auflösung in hypothetische Grundbestandteile <lb n="ple_058.009"/> führen nur gar zu leicht in die Irre.</p> <p><lb n="ple_058.010"/> Eine weitere Übergangsstufe bildet der Fall, daß der Dichter das <lb n="ple_058.011"/> Werk eines früheren überarbeitet, wie das in den Werken der mittelhochdeutschen <lb n="ple_058.012"/> Epiker und in mehreren Shakespeareschen Dramen geschehen ist. <lb n="ple_058.013"/> Hier ist zweierlei möglich: die Arbeit des Erneuerers beschränkt sich entweder <lb n="ple_058.014"/> darauf, die ursprünglichen Intentionen deutlicher zu machen und <lb n="ple_058.015"/> reicher auszugestalten, oder er benutzt das Vorhandene nur gleichsam als <lb n="ple_058.016"/> halb behauenen Rohstoff, um ihm seine eigenen Intentionen aufzudrücken. <lb n="ple_058.017"/> Der erste Fall — Hartmanns Iwein und die übrigen epischen Nachdichtungen <lb n="ple_058.018"/> des 12. Jahrhunderts veranschaulichen ihn — bietet überhaupt keine <lb n="ple_058.019"/> Schwierigkeiten. Im zweiten ist es offenbar eben die neue Intention, die <lb n="ple_058.020"/> dem Gesamtwerk die Einheit gibt und aus der heraus es verstanden und <lb n="ple_058.021"/> erklärt werden will. Wo die Nachdichtung vollständig gelungen ist, wie <lb n="ple_058.022"/> z. B. in Shakespeares Hamlet, da muß auch die künstlerische Erklärung <lb n="ple_058.023"/> im ganzen Umfange möglich sein. Wo es der jüngere Dichter nicht vermocht <lb n="ple_058.024"/> hat, allen Einzelheiten den Stempel seiner eigenen Intentionen aufzudrücken, <lb n="ple_058.025"/> da wird auch hier wieder die genetische Erklärung der künstlerischen <lb n="ple_058.026"/> zu Hilfe kommen müssen.</p> <p><lb n="ple_058.027"/> Im wesentlichen ebenso verhält es sich mit den Volksepen. Auch <lb n="ple_058.028"/> hier kommt es auf die abschließende Intention an, aus der die Einheit des <lb n="ple_058.029"/> Gesamtgedichts hervorgeht; dieser hat die Interpretation die Erklärung des <lb n="ple_058.030"/> einzelnen unterzuordnen. Daß diese Einheit eine zufällige oder daß sie <lb n="ple_058.031"/> aus dem Instinkt der „träumenden Volksseele“ hervorgegangen sei, glaubt <lb n="ple_058.032"/> heute niemand mehr, also muß sie von dem Dichter und Vollender beabsichtigt, <lb n="ple_058.033"/> ihm klar bewußt gewesen sein. Dem künstlerischen Plan, der <lb n="ple_058.034"/> hieraus entsprang, hat er das, was er vorfand, ebenso eingeordnet wie das, <lb n="ple_058.035"/> was er selbst etwa hinzudichtete. Diesem Plan also gilt es auch hier nachzugehen, <lb n="ple_058.036"/> um die organische Ordnung des Ganzen zu erfassen. Nun ist <lb n="ple_058.037"/> allerdings in allen Volksepen eine mehr oder weniger große Anzahl unorganischer <lb n="ple_058.038"/> Bestandteile mit aufgenommen und überliefert worden, in der <lb n="ple_058.039"/> Ilias und der Gudrun bekanntlich mehr als in der Odyssee und dem Nibelungenlied, <lb n="ple_058.040"/> allein auch in diesen immerhin genug. Hier ist denn wiederum <lb n="ple_058.041"/> die Aufgabe der historischen Untersuchung, die genetische Erklärung dessen <lb n="ple_058.042"/> zu liefern, was künstlerisch nicht erklärt werden kann, und es ist zweifellos, <lb n="ple_058.043"/> daß ein großer Teil der Gesamtbehandlung unter diese Aufgabe fallen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [58/0072]
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zu Hilfe kommen müssen, und der Interpret darf hier den Literarhistoriker ple_058.002
niemals aus den Augen verlieren. Aber auch das Umgekehrte ple_058.003
ist notwendig, wie Scherers Beurteilung des ersten Faustmonologs (Aufsätze ple_058.004
über Goethe S. 309 ff.) zeigt, die durch Erich Schmidts Herausgabe des ple_058.005
Urfaust gründlich widerlegt ist. Auch was äußerlich zu verschiedenen ple_058.006
Zeiten entstanden ist, kann aus einer einheitlichen Anschauung und Absicht ple_058.007
heraus entstanden sein, und ein prinzipielles und allzu scharfsinniges Suchen ple_058.008
nach Diskrepanzen und Nähten, eine Auflösung in hypothetische Grundbestandteile ple_058.009
führen nur gar zu leicht in die Irre.
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Eine weitere Übergangsstufe bildet der Fall, daß der Dichter das ple_058.011
Werk eines früheren überarbeitet, wie das in den Werken der mittelhochdeutschen ple_058.012
Epiker und in mehreren Shakespeareschen Dramen geschehen ist. ple_058.013
Hier ist zweierlei möglich: die Arbeit des Erneuerers beschränkt sich entweder ple_058.014
darauf, die ursprünglichen Intentionen deutlicher zu machen und ple_058.015
reicher auszugestalten, oder er benutzt das Vorhandene nur gleichsam als ple_058.016
halb behauenen Rohstoff, um ihm seine eigenen Intentionen aufzudrücken. ple_058.017
Der erste Fall — Hartmanns Iwein und die übrigen epischen Nachdichtungen ple_058.018
des 12. Jahrhunderts veranschaulichen ihn — bietet überhaupt keine ple_058.019
Schwierigkeiten. Im zweiten ist es offenbar eben die neue Intention, die ple_058.020
dem Gesamtwerk die Einheit gibt und aus der heraus es verstanden und ple_058.021
erklärt werden will. Wo die Nachdichtung vollständig gelungen ist, wie ple_058.022
z. B. in Shakespeares Hamlet, da muß auch die künstlerische Erklärung ple_058.023
im ganzen Umfange möglich sein. Wo es der jüngere Dichter nicht vermocht ple_058.024
hat, allen Einzelheiten den Stempel seiner eigenen Intentionen aufzudrücken, ple_058.025
da wird auch hier wieder die genetische Erklärung der künstlerischen ple_058.026
zu Hilfe kommen müssen.
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Im wesentlichen ebenso verhält es sich mit den Volksepen. Auch ple_058.028
hier kommt es auf die abschließende Intention an, aus der die Einheit des ple_058.029
Gesamtgedichts hervorgeht; dieser hat die Interpretation die Erklärung des ple_058.030
einzelnen unterzuordnen. Daß diese Einheit eine zufällige oder daß sie ple_058.031
aus dem Instinkt der „träumenden Volksseele“ hervorgegangen sei, glaubt ple_058.032
heute niemand mehr, also muß sie von dem Dichter und Vollender beabsichtigt, ple_058.033
ihm klar bewußt gewesen sein. Dem künstlerischen Plan, der ple_058.034
hieraus entsprang, hat er das, was er vorfand, ebenso eingeordnet wie das, ple_058.035
was er selbst etwa hinzudichtete. Diesem Plan also gilt es auch hier nachzugehen, ple_058.036
um die organische Ordnung des Ganzen zu erfassen. Nun ist ple_058.037
allerdings in allen Volksepen eine mehr oder weniger große Anzahl unorganischer ple_058.038
Bestandteile mit aufgenommen und überliefert worden, in der ple_058.039
Ilias und der Gudrun bekanntlich mehr als in der Odyssee und dem Nibelungenlied, ple_058.040
allein auch in diesen immerhin genug. Hier ist denn wiederum ple_058.041
die Aufgabe der historischen Untersuchung, die genetische Erklärung dessen ple_058.042
zu liefern, was künstlerisch nicht erklärt werden kann, und es ist zweifellos, ple_058.043
daß ein großer Teil der Gesamtbehandlung unter diese Aufgabe fallen
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