Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_053.001 ple_053.034 ple_053.001 ple_053.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0067" n="53"/><lb n="ple_053.001"/> einheitlichen Mittelpunkt aufsuchen, der das Ganze beherrscht, um dann <lb n="ple_053.002"/> von dem so gewonnenen Standpunkt aus diese Einzelheiten in ihrem <lb n="ple_053.003"/> Verhältnis zur Einheit des Ganzen zu erkennen. In der didaktischen <lb n="ple_053.004"/> und literarischen Darstellung wird man freilich so gut wie niemals den <lb n="ple_053.005"/> Doppelweg in seiner ganzen Länge zurücklegen. Wenn man bei der <lb n="ple_053.006"/> Interpretation des einzelnen von vornherein den Gesamtzusammenhang <lb n="ple_053.007"/> ins Auge gefaßt hat, so wird sich nicht erst am Schluß, sondern schon <lb n="ple_053.008"/> im Verlauf der Einzelerklärung, bisweilen sehr früh, die Einheit mit <lb n="ple_053.009"/> steigender Deutlichkeit enthüllen, auf die dann jeder Fortschritt der Dichtung <lb n="ple_053.010"/> bezogen werden muß, so daß wir am Schlusse angelangt auch schon <lb n="ple_053.011"/> das Ganze überschauen. So ist es z. B. in Goethes Tasso, wo gleich in <lb n="ple_053.012"/> der ersten Szene mit der Schilderung, die Leonore „fein und zart“ von <lb n="ple_053.013"/> dem Wesen des Dichters gibt, das Grundthema des Ganzen angeschlagen <lb n="ple_053.014"/> wird, das sich dann in den folgenden Szenen und Akten immer deutlicher <lb n="ple_053.015"/> entfaltet. Wenn wir dem Gange der Handlung folgend, begriffen haben, <lb n="ple_053.016"/> daß dieses „Schauspiel“ die Ansätze zu einer das eigene Selbst zerstörenden <lb n="ple_053.017"/> Entwicklung, die in jedem starken Phantasieleben und zumal im Geiste <lb n="ple_053.018"/> des Dichters liegen, in ihren letzten Konsequenzen darstellt und eben damit <lb n="ple_053.019"/> zur Tragik steigert, so wird uns hierdurch der Zusammenhang in allem <lb n="ple_053.020"/> einzelnen verständlich. Insbesondere die Krankheit Tassos erscheint uns <lb n="ple_053.021"/> in ihrer innerlichen Notwendigkeit, und über die Tragik des Abschlusses, <lb n="ple_053.022"/> den Goethe äußerlich im Halbdunkel läßt, kann kein Zweifel sein. Damit <lb n="ple_053.023"/> aber ist zugleich Form und Wesen der Tragödie gegeben, auch wenn <lb n="ple_053.024"/> ihr der übliche äußere Schluß mit dem Untergang des Helden fehlt. — <lb n="ple_053.025"/> Didaktisch ist auch der umgekehrte Weg denkbar. Der Erklärer, der sich <lb n="ple_053.026"/> zunächst die Grundanschauung des Ganzen bereits erworben hat, beginnt <lb n="ple_053.027"/> von vornherein damit, diese an den entscheidenden Stellen der Dichtung <lb n="ple_053.028"/> aufzuweisen, um sie dann durch den Gang der Erklärung im <lb n="ple_053.029"/> einzelnen zu bestätigen. Auch dies Verfahren zeichnet ihm der Dichter <lb n="ple_053.030"/> bisweilen vor, zumal in lehrhaften oder reflektierenden Dichtungen. Wie <lb n="ple_053.031"/> denn Goethe in den „Grenzen der Menschheit“, noch deutlicher aber in <lb n="ple_053.032"/> dem Gedichte „Das Göttliche“ den Grundgedanken an den Anfang stellt, <lb n="ple_053.033"/> so daß alles folgende als Durchführung desselben erscheinen muß.</p> <p><lb n="ple_053.034"/> Voraussetzung für eine solche Interpretation, wenn sie anders stichhaltig <lb n="ple_053.035"/> und fruchtbar sein soll, ist nun freilich, daß der Erklärer die Einzelheiten des <lb n="ple_053.036"/> Inhalts und der Form beherrscht, daß er an jeder Stelle festzustellen vermag, <lb n="ple_053.037"/> was der Dichter gewollt und gemeint hat, kurz, daß er mit philologischer <lb n="ple_053.038"/> Genauigkeit und hermeneutischer Schärfe zu erklären vermag, <lb n="ple_053.039"/> auch da, wo Beziehungen vorliegen, die der Dichter im Dunkel oder Halbdunkel <lb n="ple_053.040"/> gelassen hat. Zu diesem Zweck ist es nötig, daß er mit der Geschichte <lb n="ple_053.041"/> des Stoffes und der Form Bescheid weiß, und in bestimmten Fällen <lb n="ple_053.042"/> erweist es sich als unumgänglich, daß er die rein persönlichen Beziehungen <lb n="ple_053.043"/> kennt, die zwischen dem Dichter und seinen Darstellungen vorhanden sind: </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [53/0067]
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einheitlichen Mittelpunkt aufsuchen, der das Ganze beherrscht, um dann ple_053.002
von dem so gewonnenen Standpunkt aus diese Einzelheiten in ihrem ple_053.003
Verhältnis zur Einheit des Ganzen zu erkennen. In der didaktischen ple_053.004
und literarischen Darstellung wird man freilich so gut wie niemals den ple_053.005
Doppelweg in seiner ganzen Länge zurücklegen. Wenn man bei der ple_053.006
Interpretation des einzelnen von vornherein den Gesamtzusammenhang ple_053.007
ins Auge gefaßt hat, so wird sich nicht erst am Schluß, sondern schon ple_053.008
im Verlauf der Einzelerklärung, bisweilen sehr früh, die Einheit mit ple_053.009
steigender Deutlichkeit enthüllen, auf die dann jeder Fortschritt der Dichtung ple_053.010
bezogen werden muß, so daß wir am Schlusse angelangt auch schon ple_053.011
das Ganze überschauen. So ist es z. B. in Goethes Tasso, wo gleich in ple_053.012
der ersten Szene mit der Schilderung, die Leonore „fein und zart“ von ple_053.013
dem Wesen des Dichters gibt, das Grundthema des Ganzen angeschlagen ple_053.014
wird, das sich dann in den folgenden Szenen und Akten immer deutlicher ple_053.015
entfaltet. Wenn wir dem Gange der Handlung folgend, begriffen haben, ple_053.016
daß dieses „Schauspiel“ die Ansätze zu einer das eigene Selbst zerstörenden ple_053.017
Entwicklung, die in jedem starken Phantasieleben und zumal im Geiste ple_053.018
des Dichters liegen, in ihren letzten Konsequenzen darstellt und eben damit ple_053.019
zur Tragik steigert, so wird uns hierdurch der Zusammenhang in allem ple_053.020
einzelnen verständlich. Insbesondere die Krankheit Tassos erscheint uns ple_053.021
in ihrer innerlichen Notwendigkeit, und über die Tragik des Abschlusses, ple_053.022
den Goethe äußerlich im Halbdunkel läßt, kann kein Zweifel sein. Damit ple_053.023
aber ist zugleich Form und Wesen der Tragödie gegeben, auch wenn ple_053.024
ihr der übliche äußere Schluß mit dem Untergang des Helden fehlt. — ple_053.025
Didaktisch ist auch der umgekehrte Weg denkbar. Der Erklärer, der sich ple_053.026
zunächst die Grundanschauung des Ganzen bereits erworben hat, beginnt ple_053.027
von vornherein damit, diese an den entscheidenden Stellen der Dichtung ple_053.028
aufzuweisen, um sie dann durch den Gang der Erklärung im ple_053.029
einzelnen zu bestätigen. Auch dies Verfahren zeichnet ihm der Dichter ple_053.030
bisweilen vor, zumal in lehrhaften oder reflektierenden Dichtungen. Wie ple_053.031
denn Goethe in den „Grenzen der Menschheit“, noch deutlicher aber in ple_053.032
dem Gedichte „Das Göttliche“ den Grundgedanken an den Anfang stellt, ple_053.033
so daß alles folgende als Durchführung desselben erscheinen muß.
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Voraussetzung für eine solche Interpretation, wenn sie anders stichhaltig ple_053.035
und fruchtbar sein soll, ist nun freilich, daß der Erklärer die Einzelheiten des ple_053.036
Inhalts und der Form beherrscht, daß er an jeder Stelle festzustellen vermag, ple_053.037
was der Dichter gewollt und gemeint hat, kurz, daß er mit philologischer ple_053.038
Genauigkeit und hermeneutischer Schärfe zu erklären vermag, ple_053.039
auch da, wo Beziehungen vorliegen, die der Dichter im Dunkel oder Halbdunkel ple_053.040
gelassen hat. Zu diesem Zweck ist es nötig, daß er mit der Geschichte ple_053.041
des Stoffes und der Form Bescheid weiß, und in bestimmten Fällen ple_053.042
erweist es sich als unumgänglich, daß er die rein persönlichen Beziehungen ple_053.043
kennt, die zwischen dem Dichter und seinen Darstellungen vorhanden sind:
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