Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_050.001 ple_050.006 ple_050.017 ple_050.034 ple_050.042 ple_050.001 ple_050.006 ple_050.017 ple_050.034 ple_050.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0064" n="50"/><lb n="ple_050.001"/> und Probleme (Scherer sagt eine „Topik“) für die <hi rendition="#g">Literaturgeschichte.</hi> <lb n="ple_050.002"/> Ein bescheideneres Ziel haben wir uns bei der Erneuerung der Lehre von <lb n="ple_050.003"/> der Dichtkunst gesetzt: nur dem Verständnis der Dichtungen soll sie den <lb n="ple_050.004"/> Weg vorzeichnen und somit in praktischer Hinsicht nichts anderes sein als <lb n="ple_050.005"/> eine <hi rendition="#g">Methodenlehre für die künstlerische Interpretation.</hi></p> <p><lb n="ple_050.006"/> Die Würdigung der Poetik in diesem Sinne hängt eng zusammen <lb n="ple_050.007"/> mit der Wertung der künstlerischen Erklärung überhaupt. Wird diese letztere, <lb n="ple_050.008"/> wie es in der modernen Literaturwissenschaft nicht selten geschieht, zugunsten <lb n="ple_050.009"/> der genetischen Untersuchung der Dichtungen beiseite gesetzt, wird <lb n="ple_050.010"/> sie wohl gar als elementare und unwissenschaftliche Tätigkeit aufs Gymnasium <lb n="ple_050.011"/> und in die Schulliteratur verwiesen, so wird freilich auch der Poetik <lb n="ple_050.012"/> als Anleitung zum künstlerischen Verständnisse kein wissenschaftlicher Wert <lb n="ple_050.013"/> beigelegt werden. Aber daß hierin eine Einseitigkeit liegt, ergibt sich <lb n="ple_050.014"/> mittelbar schon aus unseren bisherigen Betrachtungen. Gleichwohl wird es <lb n="ple_050.015"/> notwendig sein, auf die methodologische Frage nach dem Verhältnis der <lb n="ple_050.016"/> ästhetischen zur genetischen Erklärungsart etwas näher einzugehen.</p> <p><lb n="ple_050.017"/> „Den Entstehungsprozeß in der Seele des Autors erforschen“, nennt <lb n="ple_050.018"/> Scherer in den Aufsätzen über Goethe (Berlin 1886 S. 17) „die höchste <lb n="ple_050.019"/> Aufgabe einer jeden kunstmäßigen Interpretation.“ Die Entstehungsgeschichte <lb n="ple_050.020"/> umfaßt naturgemäß zunächst die literarischen Anknüpfungen und <lb n="ple_050.021"/> Vorbilder, die auf eine Dichtung eingewirkt haben. Als das Hauptmittel <lb n="ple_050.022"/> aber, um ihre Aufgabe zu lösen, bezeichnet er ebenda S. 128 die Beziehung <lb n="ple_050.023"/> zwischen biographischen Zügen und entsprechenden Einzelheiten <lb n="ple_050.024"/> der Dichtungen. „Man kann in sorgfältiger und besonnener Aufsuchung <lb n="ple_050.025"/> von Ähnlichkeiten in dem Leben und der Bildung eines Dichters einerseits <lb n="ple_050.026"/> und in seinen Werken anderseits gar nicht weit genug gehen.“ Wenn man <lb n="ple_050.027"/> die Literaturwissenschaft der Gegenwart, insbesondere die Goetheliteratur <lb n="ple_050.028"/> verfolgt, so sieht man, welche Wirkung diese Fingerzeige und das entsprechende <lb n="ple_050.029"/> Vorbild des genialen Lehrers auf seine Schule geübt haben: <lb n="ple_050.030"/> ja, man sollte glauben, daß die Entstehungsgeschichte nicht nur die höchste, <lb n="ple_050.031"/> sondern die einzige Erklärungsart sei, die ihren Namen verdient. Eine Dichtung <lb n="ple_050.032"/> scheint nur dann, dann aber auch völlig verstanden zu sein, wenn <lb n="ple_050.033"/> man weiß, aus welchen Erlebnissen des Dichters sie hervorgegangen ist.</p> <p><lb n="ple_050.034"/> Allein dem gegenüber erhebt sich nun doch die Frage, mit welchem <lb n="ple_050.035"/> Rechte so geurteilt wird? Kommt dem Einblick in die Entstehungsgeschichte <lb n="ple_050.036"/> eines Kunstwerks wirklich mehr Wert und Bedeutung zu als <lb n="ple_050.037"/> dem hermeneutisch und ästhetisch begründeten Verständnis seines künstlerischen <lb n="ple_050.038"/> Gehalts? oder fällt etwa beides zusammen? Das letztere ist <lb n="ple_050.039"/> offenbar nicht der Fall. Die beiden Wege, die uns hier entgegentreten, <lb n="ple_050.040"/> führen zu zwei verschiedenen Zielen und empfangen durch diese für sich <lb n="ple_050.041"/> Richtung und Bedeutung.</p> <p><lb n="ple_050.042"/> Wir kennen diese Ziele schon. Es sind eben die, welche durch die <lb n="ple_050.043"/> psychologische und die künstlerische Poetik bestimmt werden. Auf der </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [50/0064]
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und Probleme (Scherer sagt eine „Topik“) für die Literaturgeschichte. ple_050.002
Ein bescheideneres Ziel haben wir uns bei der Erneuerung der Lehre von ple_050.003
der Dichtkunst gesetzt: nur dem Verständnis der Dichtungen soll sie den ple_050.004
Weg vorzeichnen und somit in praktischer Hinsicht nichts anderes sein als ple_050.005
eine Methodenlehre für die künstlerische Interpretation.
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Die Würdigung der Poetik in diesem Sinne hängt eng zusammen ple_050.007
mit der Wertung der künstlerischen Erklärung überhaupt. Wird diese letztere, ple_050.008
wie es in der modernen Literaturwissenschaft nicht selten geschieht, zugunsten ple_050.009
der genetischen Untersuchung der Dichtungen beiseite gesetzt, wird ple_050.010
sie wohl gar als elementare und unwissenschaftliche Tätigkeit aufs Gymnasium ple_050.011
und in die Schulliteratur verwiesen, so wird freilich auch der Poetik ple_050.012
als Anleitung zum künstlerischen Verständnisse kein wissenschaftlicher Wert ple_050.013
beigelegt werden. Aber daß hierin eine Einseitigkeit liegt, ergibt sich ple_050.014
mittelbar schon aus unseren bisherigen Betrachtungen. Gleichwohl wird es ple_050.015
notwendig sein, auf die methodologische Frage nach dem Verhältnis der ple_050.016
ästhetischen zur genetischen Erklärungsart etwas näher einzugehen.
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„Den Entstehungsprozeß in der Seele des Autors erforschen“, nennt ple_050.018
Scherer in den Aufsätzen über Goethe (Berlin 1886 S. 17) „die höchste ple_050.019
Aufgabe einer jeden kunstmäßigen Interpretation.“ Die Entstehungsgeschichte ple_050.020
umfaßt naturgemäß zunächst die literarischen Anknüpfungen und ple_050.021
Vorbilder, die auf eine Dichtung eingewirkt haben. Als das Hauptmittel ple_050.022
aber, um ihre Aufgabe zu lösen, bezeichnet er ebenda S. 128 die Beziehung ple_050.023
zwischen biographischen Zügen und entsprechenden Einzelheiten ple_050.024
der Dichtungen. „Man kann in sorgfältiger und besonnener Aufsuchung ple_050.025
von Ähnlichkeiten in dem Leben und der Bildung eines Dichters einerseits ple_050.026
und in seinen Werken anderseits gar nicht weit genug gehen.“ Wenn man ple_050.027
die Literaturwissenschaft der Gegenwart, insbesondere die Goetheliteratur ple_050.028
verfolgt, so sieht man, welche Wirkung diese Fingerzeige und das entsprechende ple_050.029
Vorbild des genialen Lehrers auf seine Schule geübt haben: ple_050.030
ja, man sollte glauben, daß die Entstehungsgeschichte nicht nur die höchste, ple_050.031
sondern die einzige Erklärungsart sei, die ihren Namen verdient. Eine Dichtung ple_050.032
scheint nur dann, dann aber auch völlig verstanden zu sein, wenn ple_050.033
man weiß, aus welchen Erlebnissen des Dichters sie hervorgegangen ist.
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Allein dem gegenüber erhebt sich nun doch die Frage, mit welchem ple_050.035
Rechte so geurteilt wird? Kommt dem Einblick in die Entstehungsgeschichte ple_050.036
eines Kunstwerks wirklich mehr Wert und Bedeutung zu als ple_050.037
dem hermeneutisch und ästhetisch begründeten Verständnis seines künstlerischen ple_050.038
Gehalts? oder fällt etwa beides zusammen? Das letztere ist ple_050.039
offenbar nicht der Fall. Die beiden Wege, die uns hier entgegentreten, ple_050.040
führen zu zwei verschiedenen Zielen und empfangen durch diese für sich ple_050.041
Richtung und Bedeutung.
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Wir kennen diese Ziele schon. Es sind eben die, welche durch die ple_050.043
psychologische und die künstlerische Poetik bestimmt werden. Auf der
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