Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_042.001 ple_042.014 ple_042.016 ple_042.026 ple_042.001 ple_042.014 ple_042.016 ple_042.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0056" n="42"/> <p><lb n="ple_042.001"/> Eine solche Kunstlehre ist es, welche die folgende Darstellung anstellt: <lb n="ple_042.002"/> eine Poetik, deren Gegenstand nicht das Subjekt des Künstlers, sondern das <lb n="ple_042.003"/> objektiv vorliegende dichterische Kunstwerk ist, deren Verallgemeinerungen <lb n="ple_042.004"/> nicht Typen von Dichtern, sondern von Dichtwerken bilden; kurz eine <lb n="ple_042.005"/> objektive Lehre von der Dichtkunst und den Dichtungen. Etwas Ähnliches <lb n="ple_042.006"/> wollte auch die alte systematische Poetik leisten. Aber freilich, wir werden <lb n="ple_042.007"/> die Aufgabe tiefer und innerlicher fassen müssen, als jene es tat: es handelt <lb n="ple_042.008"/> sich nicht um eine bloße Technik, um eine Systematisierung der äußerlichen <lb n="ple_042.009"/> Gattungen und Formen, nicht um Einteilungen und Aufzählungen, <lb n="ple_042.010"/> sondern um die Feststellung der Gesichtspunkte, nach denen die Dichtung <lb n="ple_042.011"/> als Kunstwerk von innen heraus und ihren eigenen immanenten Gesetzen <lb n="ple_042.012"/> gemäß zu erfassen ist, und um das Verständnis der dichterischen Form, <lb n="ple_042.013"/> soweit sie organische, d. h. lebendige, von innen bedingte Gestaltung ist.</p> <p><lb n="ple_042.014"/> Welches wird nun die Eigenart einer solchen Betrachtungsweise sein? <lb n="ple_042.015"/> Wie wird sich die Kunstlehre im einzelnen gestalten?</p> <p><lb n="ple_042.016"/> Der erste und entscheidende Charakterzug — das geht schon aus <lb n="ple_042.017"/> dem eben Gesagten hervor — muß sein, daß sie ihren Erörterungen die <lb n="ple_042.018"/> Auffassung des Kunstwerks als einer <hi rendition="#g">Einheit</hi> zugrunde legt. Wie die <lb n="ple_042.019"/> Biologie das einzelne Lebewesen als organische Einheit betrachtet, wie sie <lb n="ple_042.020"/> es vor allem darauf absieht, diese Einheit in ihren verschiedenen Funktionen <lb n="ple_042.021"/> und Äußerungsweisen zu erfassen, so wird auch die Poetik von der <lb n="ple_042.022"/> tatsächlich gegebenen <hi rendition="#g">Einheit des dichterischen Kunstwerks</hi> ausgehen <lb n="ple_042.023"/> und die Dichtungen nach ihren Eigenschaften und Bestandteilen <lb n="ple_042.024"/> unter dem Gesichtspunkt der <hi rendition="#g">organischen,</hi> d. h. <hi rendition="#g">eben der künstlerischen <lb n="ple_042.025"/> Einheit</hi> zu verstehen suchen.</p> <p><lb n="ple_042.026"/> Freilich, ohne Analyse der Bestandteile gibt es nirgends Erkenntnis <lb n="ple_042.027"/> einer Erscheinung, in der Kunst so wenig wie in anderen Gebieten. Auch <lb n="ple_042.028"/> die Poetik als Kunstlehre wird mit einer Analyse beginnen müssen, wie es <lb n="ple_042.029"/> die psychologische Poetik tut. Allein im Gegensatz zu dieser wird sie die <lb n="ple_042.030"/> Elemente des Kunstwerks nicht nach der zeitlichen Folge scheiden, in der <lb n="ple_042.031"/> sie sich allmählich zum Ganzen zusammengeschlossen haben, sondern das <lb n="ple_042.032"/> fertige Kunstwerk selbst, so wie es vorliegt, in die Bestandteile zerlegen, die <lb n="ple_042.033"/> mit der Form und dem Inhalt gegeben sind. Sie wird ferner diese Bestandteile <lb n="ple_042.034"/> zwar auch an sich ins Auge fassen müssen, ihr Hauptaugenmerk aber <lb n="ple_042.035"/> wird sein, durch ein synthetisches, man könnte schärfer sagen, ein rekonstruktives <lb n="ple_042.036"/> Verfahren zu zeigen, wie sie in organischem Zusammenschluß das <lb n="ple_042.037"/> Ganze bilden. Die Poetik verfährt darin genau wie die ästhetische Interpretation <lb n="ple_042.038"/> des einzelnen Dichtwerks, die sie ja auch als induktive Grundlage benutzen <lb n="ple_042.039"/> muß. Aber sie bleibt nicht, wie diese, beim einzelnen Dichtwerk stehen, <lb n="ple_042.040"/> vielmehr wird sie überall, in den Bestandteilen wie in dem Gesamtwerk, das <lb n="ple_042.041"/> Allgemeine, das Typische suchen. Die Feststellung bestimmter Typen und <lb n="ple_042.042"/> Formen, die Erkenntnis der organischen Gesetze, durch die sie gebildet <lb n="ple_042.043"/> und bestimmt werden, ist ihr Ziel. Hierdurch erst wird sie Wissenschaft.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0056]
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Eine solche Kunstlehre ist es, welche die folgende Darstellung anstellt: ple_042.002
eine Poetik, deren Gegenstand nicht das Subjekt des Künstlers, sondern das ple_042.003
objektiv vorliegende dichterische Kunstwerk ist, deren Verallgemeinerungen ple_042.004
nicht Typen von Dichtern, sondern von Dichtwerken bilden; kurz eine ple_042.005
objektive Lehre von der Dichtkunst und den Dichtungen. Etwas Ähnliches ple_042.006
wollte auch die alte systematische Poetik leisten. Aber freilich, wir werden ple_042.007
die Aufgabe tiefer und innerlicher fassen müssen, als jene es tat: es handelt ple_042.008
sich nicht um eine bloße Technik, um eine Systematisierung der äußerlichen ple_042.009
Gattungen und Formen, nicht um Einteilungen und Aufzählungen, ple_042.010
sondern um die Feststellung der Gesichtspunkte, nach denen die Dichtung ple_042.011
als Kunstwerk von innen heraus und ihren eigenen immanenten Gesetzen ple_042.012
gemäß zu erfassen ist, und um das Verständnis der dichterischen Form, ple_042.013
soweit sie organische, d. h. lebendige, von innen bedingte Gestaltung ist.
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Welches wird nun die Eigenart einer solchen Betrachtungsweise sein? ple_042.015
Wie wird sich die Kunstlehre im einzelnen gestalten?
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Der erste und entscheidende Charakterzug — das geht schon aus ple_042.017
dem eben Gesagten hervor — muß sein, daß sie ihren Erörterungen die ple_042.018
Auffassung des Kunstwerks als einer Einheit zugrunde legt. Wie die ple_042.019
Biologie das einzelne Lebewesen als organische Einheit betrachtet, wie sie ple_042.020
es vor allem darauf absieht, diese Einheit in ihren verschiedenen Funktionen ple_042.021
und Äußerungsweisen zu erfassen, so wird auch die Poetik von der ple_042.022
tatsächlich gegebenen Einheit des dichterischen Kunstwerks ausgehen ple_042.023
und die Dichtungen nach ihren Eigenschaften und Bestandteilen ple_042.024
unter dem Gesichtspunkt der organischen, d. h. eben der künstlerischen ple_042.025
Einheit zu verstehen suchen.
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Freilich, ohne Analyse der Bestandteile gibt es nirgends Erkenntnis ple_042.027
einer Erscheinung, in der Kunst so wenig wie in anderen Gebieten. Auch ple_042.028
die Poetik als Kunstlehre wird mit einer Analyse beginnen müssen, wie es ple_042.029
die psychologische Poetik tut. Allein im Gegensatz zu dieser wird sie die ple_042.030
Elemente des Kunstwerks nicht nach der zeitlichen Folge scheiden, in der ple_042.031
sie sich allmählich zum Ganzen zusammengeschlossen haben, sondern das ple_042.032
fertige Kunstwerk selbst, so wie es vorliegt, in die Bestandteile zerlegen, die ple_042.033
mit der Form und dem Inhalt gegeben sind. Sie wird ferner diese Bestandteile ple_042.034
zwar auch an sich ins Auge fassen müssen, ihr Hauptaugenmerk aber ple_042.035
wird sein, durch ein synthetisches, man könnte schärfer sagen, ein rekonstruktives ple_042.036
Verfahren zu zeigen, wie sie in organischem Zusammenschluß das ple_042.037
Ganze bilden. Die Poetik verfährt darin genau wie die ästhetische Interpretation ple_042.038
des einzelnen Dichtwerks, die sie ja auch als induktive Grundlage benutzen ple_042.039
muß. Aber sie bleibt nicht, wie diese, beim einzelnen Dichtwerk stehen, ple_042.040
vielmehr wird sie überall, in den Bestandteilen wie in dem Gesamtwerk, das ple_042.041
Allgemeine, das Typische suchen. Die Feststellung bestimmter Typen und ple_042.042
Formen, die Erkenntnis der organischen Gesetze, durch die sie gebildet ple_042.043
und bestimmt werden, ist ihr Ziel. Hierdurch erst wird sie Wissenschaft.
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