Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.
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ple_039.001 ple_039.030 ple_039.048 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#aq"><pb facs="#f0053" n="39"/><lb n="ple_039.001"/> lichsten Weben belauschen, die naturwissenschaftliche Methode, soweit dies überhaupt <lb n="ple_039.002"/> möglich ist, auf das Gebiet der Poesie anwenden“ (S. 21). Zu diesem Zweck betrachtet <lb n="ple_039.003"/> er die Entstehung des Gedichts nach Analogie mit dem physischen Werdeprozeß des Individuums: <lb n="ple_039.004"/> ein Bild, das Hebbel und andere Dichter mit Vorliebe auf ihr Schaffen anwenden, <lb n="ple_039.005"/> wird hier systematisch der Betrachtung zugrunde gelegt. Für die einzelnen <lb n="ple_039.006"/> Stadien des dichterischen Prozesses entnimmt Werner der Physiologie eine Anzahl terminologischer <lb n="ple_039.007"/> Bezeichnungen (Befruchtung, Keim, inneres und äußeres Wachstum, Geburt), die <lb n="ple_039.008"/> er nicht als eine müßige Spielerei, sondern als eine aufklärende wissenschaftliche Analogie <lb n="ple_039.009"/> angesehen wissen will. Er bringt eine Fülle von Material, das nach diesem Schema bearbeitet <lb n="ple_039.010"/> wird, erörtert die einzelnen Entwicklungsstadien an der Hand von Selbstzeugnissen <lb n="ple_039.011"/> und fragmentarischen Überlieferungen (namentlich Hebbels Tagebücher werden stark herangezogen) <lb n="ple_039.012"/> und verfolgt eine beträchtliche Reihe von Gedichten durch die ganze Entwicklung <lb n="ple_039.013"/> hindurch. Alles das ist im einzelnen höchst lehrreich. Aber daß der psychologische Prozeß <lb n="ple_039.014"/> selber in seinen wesentlichsten Punkten doch nicht dadurch zur Klarheit kommt, scheint <lb n="ple_039.015"/> der Verfasser selbst zuzugeben. „Wir können erforschen,“ sagt er (S. 24), „was ein Gedicht <lb n="ple_039.016"/> veranlaßt, wie es im Innern des Dichters wächst und endlich produziert wird, aber <lb n="ple_039.017"/> wie die Veranlassung zum Keim wird, aus welchem sich das Gedicht entfaltet, das vermögen <lb n="ple_039.018"/> wir nicht zu erforschen, das kann uns auch der Dichter nicht sagen, weil er es <lb n="ple_039.019"/> selbst nicht weiß, hier liegt eben das Unbewußte der Kunst. Aber unser Bemühen ist <lb n="ple_039.020"/> natürlich darauf gerichtet, mit unserer Erkenntnis so weit als möglich zu dringen.“ — <lb n="ple_039.021"/> Ich fürchte, die ganze Analogie zwischen dem poetischen und dem physischen Werdeprozeß <lb n="ple_039.022"/> läuft eben darauf hinaus, daß das innere Wesen, die treibende Kraft, die hinter <lb n="ple_039.023"/> den Erscheinungen wirkt, bei beiden gleich unverkennbar ist, wiewohl man die äußeren <lb n="ple_039.024"/> Stadien des Prozesses erkennen kann. Im übrigen hat der Vergleich kaum mehr als <lb n="ple_039.025"/> dichterischen Wert, ja, er führt zu gewaltsamen, zum Teil ganz unmöglichen Behauptungen <lb n="ple_039.026"/> (z. B. S. 421). Man kann aus dem reichen Material, das Werner zusammenträgt und übersichtlich <lb n="ple_039.027"/> ordnet, viel lernen; aber sein Werk gehört zu den Büchern, die ihren Wert trotz, <lb n="ple_039.028"/> nicht wegen ihres Grundgedankens haben, und gerade die Abschnitte, in denen die <lb n="ple_039.029"/> Psychologie zurücktritt, sind meines Erachtens die wertvollsten.</hi> </p> <p> <lb n="ple_039.030"/> <hi rendition="#aq">Dagegen bekämpft Emil <hi rendition="#g">Geiger</hi> in dem S. 31 Anm. angeführten Buche die Überschätzung <lb n="ple_039.031"/> des Erlebnisses, die mit der Unterschätzung der formgebenden Kraft des Dichters <lb n="ple_039.032"/> Hand in Hand geht, und er betont ganz im Sinne der obigen Darlegungen den Charakter der <lb n="ple_039.033"/> schöpferischen Tätigkeit in der Poesie. Dieser Gedanke zieht sich als Leitmotiv durch <lb n="ple_039.034"/> sein Buch und gelangt wiederholt zu glücklichem Ausdruck, z. B. S. 202: „Von der an <lb n="ple_039.035"/> sich richtigen Erkenntnis ausgehend, daß das Erlebnis Grundlage des dichterischen Schaffens <lb n="ple_039.036"/> sei, übersieht man, daß zwischen äußerem Erleben und innerem Bild eine tiefgchende <lb n="ple_039.037"/> Wandlung liegt.“ S. 118: „Die Lyrik kann nie das bloße Spiegelbild des empirischen Erlebnisses <lb n="ple_039.038"/> geben, liegt doch zwischen diesem und der Kunstform der schöpferische Akt <lb n="ple_039.039"/> des Dichters.“ Von diesem Standpunkt aus gelangt Geiger zu einer Reihe wertvoller Einsichten, <lb n="ple_039.040"/> die sich größtenteils gleichfalls über die Grenzen der Lyrik hinaus auf das gesamte <lb n="ple_039.041"/> Gebiet der Poesie beziehen. Das verhältnismäßig kleine Buch ist inhaltreich und <lb n="ple_039.042"/> scheint mir bisher von der Kritik kaum gebührend gewürdigt. Es verhält sich ungefähr <lb n="ple_039.043"/> zu Diltheys „Einbildungskraft des Dichters“ wie Werners Buch zu Scherers Poetik: es <lb n="ple_039.044"/> sucht eine psychologische Einsicht in das Werden lyrischer Schöpfungen zu gewinnen und <lb n="ple_039.045"/> hieraaf eine Kunstlehre vom Wesen der Lyrik zu begründen. Die Darstellung würde freilich <lb n="ple_039.046"/> gewonnen haben, wenn diese beiden Gesichtspunkte in der Anordnung, vielleicht <lb n="ple_039.047"/> auch in der Methode, deutlicher geschieden wären.</hi> </p> <p> <lb n="ple_039.048"/> <hi rendition="#aq">Auch Ernst <hi rendition="#g">Grosse</hi> (Kunstwissenschaftliche Studien, Tübingen 1900) gelangt in dem <lb n="ple_039.049"/> klar und frisch geschriebenen Kapitel über das Wesen des Künstlers zu Erwägungen und <lb n="ple_039.050"/> Ergebnissen, die unserer obigen Darlegung ganz verwandt, aber noch entschiedener negativ <lb n="ple_039.051"/> formuliert sind. „Künstler und Träumer sind einander völlig gleich, insofern beide ihre </hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [39/0053]
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lichsten Weben belauschen, die naturwissenschaftliche Methode, soweit dies überhaupt ple_039.002
möglich ist, auf das Gebiet der Poesie anwenden“ (S. 21). Zu diesem Zweck betrachtet ple_039.003
er die Entstehung des Gedichts nach Analogie mit dem physischen Werdeprozeß des Individuums: ple_039.004
ein Bild, das Hebbel und andere Dichter mit Vorliebe auf ihr Schaffen anwenden, ple_039.005
wird hier systematisch der Betrachtung zugrunde gelegt. Für die einzelnen ple_039.006
Stadien des dichterischen Prozesses entnimmt Werner der Physiologie eine Anzahl terminologischer ple_039.007
Bezeichnungen (Befruchtung, Keim, inneres und äußeres Wachstum, Geburt), die ple_039.008
er nicht als eine müßige Spielerei, sondern als eine aufklärende wissenschaftliche Analogie ple_039.009
angesehen wissen will. Er bringt eine Fülle von Material, das nach diesem Schema bearbeitet ple_039.010
wird, erörtert die einzelnen Entwicklungsstadien an der Hand von Selbstzeugnissen ple_039.011
und fragmentarischen Überlieferungen (namentlich Hebbels Tagebücher werden stark herangezogen) ple_039.012
und verfolgt eine beträchtliche Reihe von Gedichten durch die ganze Entwicklung ple_039.013
hindurch. Alles das ist im einzelnen höchst lehrreich. Aber daß der psychologische Prozeß ple_039.014
selber in seinen wesentlichsten Punkten doch nicht dadurch zur Klarheit kommt, scheint ple_039.015
der Verfasser selbst zuzugeben. „Wir können erforschen,“ sagt er (S. 24), „was ein Gedicht ple_039.016
veranlaßt, wie es im Innern des Dichters wächst und endlich produziert wird, aber ple_039.017
wie die Veranlassung zum Keim wird, aus welchem sich das Gedicht entfaltet, das vermögen ple_039.018
wir nicht zu erforschen, das kann uns auch der Dichter nicht sagen, weil er es ple_039.019
selbst nicht weiß, hier liegt eben das Unbewußte der Kunst. Aber unser Bemühen ist ple_039.020
natürlich darauf gerichtet, mit unserer Erkenntnis so weit als möglich zu dringen.“ — ple_039.021
Ich fürchte, die ganze Analogie zwischen dem poetischen und dem physischen Werdeprozeß ple_039.022
läuft eben darauf hinaus, daß das innere Wesen, die treibende Kraft, die hinter ple_039.023
den Erscheinungen wirkt, bei beiden gleich unverkennbar ist, wiewohl man die äußeren ple_039.024
Stadien des Prozesses erkennen kann. Im übrigen hat der Vergleich kaum mehr als ple_039.025
dichterischen Wert, ja, er führt zu gewaltsamen, zum Teil ganz unmöglichen Behauptungen ple_039.026
(z. B. S. 421). Man kann aus dem reichen Material, das Werner zusammenträgt und übersichtlich ple_039.027
ordnet, viel lernen; aber sein Werk gehört zu den Büchern, die ihren Wert trotz, ple_039.028
nicht wegen ihres Grundgedankens haben, und gerade die Abschnitte, in denen die ple_039.029
Psychologie zurücktritt, sind meines Erachtens die wertvollsten.
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Dagegen bekämpft Emil Geiger in dem S. 31 Anm. angeführten Buche die Überschätzung ple_039.031
des Erlebnisses, die mit der Unterschätzung der formgebenden Kraft des Dichters ple_039.032
Hand in Hand geht, und er betont ganz im Sinne der obigen Darlegungen den Charakter der ple_039.033
schöpferischen Tätigkeit in der Poesie. Dieser Gedanke zieht sich als Leitmotiv durch ple_039.034
sein Buch und gelangt wiederholt zu glücklichem Ausdruck, z. B. S. 202: „Von der an ple_039.035
sich richtigen Erkenntnis ausgehend, daß das Erlebnis Grundlage des dichterischen Schaffens ple_039.036
sei, übersieht man, daß zwischen äußerem Erleben und innerem Bild eine tiefgchende ple_039.037
Wandlung liegt.“ S. 118: „Die Lyrik kann nie das bloße Spiegelbild des empirischen Erlebnisses ple_039.038
geben, liegt doch zwischen diesem und der Kunstform der schöpferische Akt ple_039.039
des Dichters.“ Von diesem Standpunkt aus gelangt Geiger zu einer Reihe wertvoller Einsichten, ple_039.040
die sich größtenteils gleichfalls über die Grenzen der Lyrik hinaus auf das gesamte ple_039.041
Gebiet der Poesie beziehen. Das verhältnismäßig kleine Buch ist inhaltreich und ple_039.042
scheint mir bisher von der Kritik kaum gebührend gewürdigt. Es verhält sich ungefähr ple_039.043
zu Diltheys „Einbildungskraft des Dichters“ wie Werners Buch zu Scherers Poetik: es ple_039.044
sucht eine psychologische Einsicht in das Werden lyrischer Schöpfungen zu gewinnen und ple_039.045
hieraaf eine Kunstlehre vom Wesen der Lyrik zu begründen. Die Darstellung würde freilich ple_039.046
gewonnen haben, wenn diese beiden Gesichtspunkte in der Anordnung, vielleicht ple_039.047
auch in der Methode, deutlicher geschieden wären.
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Auch Ernst Grosse (Kunstwissenschaftliche Studien, Tübingen 1900) gelangt in dem ple_039.049
klar und frisch geschriebenen Kapitel über das Wesen des Künstlers zu Erwägungen und ple_039.050
Ergebnissen, die unserer obigen Darlegung ganz verwandt, aber noch entschiedener negativ ple_039.051
formuliert sind. „Künstler und Träumer sind einander völlig gleich, insofern beide ihre
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