Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_029.001 ple_029.003 ple_029.012 ple_029.015 ple_029.024 ple_029.001 ple_029.003 ple_029.012 ple_029.015 ple_029.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0043" n="29"/> <p><lb n="ple_029.001"/> Noch bestimmter spricht sich Goethe über die Entstehungsart seiner <lb n="ple_029.002"/> Gedichte im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit aus:</p> <p><lb n="ple_029.003"/> „Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Lebeu <lb n="ple_029.004"/> über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder <lb n="ple_029.005"/> quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und <lb n="ple_029.006"/> darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den <lb n="ple_029.007"/> äußeren Dingen zu berichtigen als mich im Inneren deshalb zu beruhigen. <lb n="ple_029.008"/> Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur <lb n="ple_029.009"/> immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles, was von mir bekannt <lb n="ple_029.010"/> geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche <lb n="ple_029.011"/> vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist.“</p> <p><lb n="ple_029.012"/> Wie ein Paradigma endlich zu diesen allgemeinen Sätzen liest sich, <lb n="ple_029.013"/> was er (Dichtung und Wahrheit, Buch XIII) über die Entstehung des Werther <lb n="ple_029.014"/> erzählt:</p> <p><lb n="ple_029.015"/> „Ich hatte mich durch diese Komposition mehr als durch jede andere <lb n="ple_029.016"/> aus einem stürmischen Elemente gerettet, auf dem ich durch eigene und <lb n="ple_029.017"/> fremde Schuld, durch zufällige und gewählte Lebensweise, durch Vorsatz <lb n="ple_029.018"/> und Übereilung, durch Hartnäckigkeit und Nachgeben auf die gewaltsamste <lb n="ple_029.019"/> Art hin und wieder getrieben worden. Ich fühlte mich wie nach einer <lb n="ple_029.020"/> Generalbeichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt. <lb n="ple_029.021"/> Das alte Hausmittel war mir diesmal vortrefflich zustatten gekommen. <lb n="ple_029.022"/> Wie ich mich aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit <lb n="ple_029.023"/> in Poesie verwandelt zu haben“, u. s. w.</p> <p><lb n="ple_029.024"/> Man ist versucht, daran zu zweifeln, daß die dichterische Eigenart, <lb n="ple_029.025"/> wie sie der Sechzigjährige hier rückschauend schildert, in der Tat schon <lb n="ple_029.026"/> bei dem siebzehnjährigen Studenten zur Entfaltung gelangt ist, wie denn <lb n="ple_029.027"/> auch die Leipziger Lieder im allgemeinen nicht eben der unbefangene <lb n="ple_029.028"/> Ausdruck innerer Erlebnisse zu sein scheinen. Man möchte vielmehr <lb n="ple_029.029"/> glauben, daß diese Eigenart erst unter dem entscheidenden Einfluß der <lb n="ple_029.030"/> Straßburger Epoche, durch welche die erste Vollblüte des jugendlichen <lb n="ple_029.031"/> Genius gezeitigt wurde, zum Durchbruch kam. Allein, sehen wir von dem <lb n="ple_029.032"/> Zeitpunkt ab, so ist an der Tatsache selbst kein Zweifel möglich. Der <lb n="ple_029.033"/> innere Drang, sich vom Druck leidenschaftlicher und schmerzlicher Zustände <lb n="ple_029.034"/> zu befreien, den ihm äußere und innere Erlebnisse auferlegt haben, <lb n="ple_029.035"/> ist es, der den Dichter zu seinen Schöpfungen treibt. Diese Schöpfungen <lb n="ple_029.036"/> entstehen mithin durch eine Art Umsetzung jener Zustände und Erlebnisse. <lb n="ple_029.037"/> Hier tritt also in einem klaren und faßlichen Selbstbericht ein psychologischer <lb n="ple_029.038"/> Grundzug des schaffenden Vermögen unseres größten Dichters <lb n="ple_029.039"/> scharf umrissen zutage. Daß sich die wissenschaftliche Behandlung Goethes <lb n="ple_029.040"/> zu einer ihrer Aufgaben macht, diesen Zug in den einzelnen Werken des <lb n="ple_029.041"/> Dichters nachzuweisen, ist durchaus berechtigt. Daß sie zu diesem Zweck <lb n="ple_029.042"/> die Beziehungen zwischen Leben und Dichtung feststellen und hervorheben <lb n="ple_029.043"/> muß, leuchtet ein. Nun aber hat die Goetheforschung der letzten Jahrzehnte </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [29/0043]
ple_029.001
Noch bestimmter spricht sich Goethe über die Entstehungsart seiner ple_029.002
Gedichte im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit aus:
ple_029.003
„Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Lebeu ple_029.004
über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder ple_029.005
quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und ple_029.006
darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den ple_029.007
äußeren Dingen zu berichtigen als mich im Inneren deshalb zu beruhigen. ple_029.008
Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur ple_029.009
immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles, was von mir bekannt ple_029.010
geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche ple_029.011
vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist.“
ple_029.012
Wie ein Paradigma endlich zu diesen allgemeinen Sätzen liest sich, ple_029.013
was er (Dichtung und Wahrheit, Buch XIII) über die Entstehung des Werther ple_029.014
erzählt:
ple_029.015
„Ich hatte mich durch diese Komposition mehr als durch jede andere ple_029.016
aus einem stürmischen Elemente gerettet, auf dem ich durch eigene und ple_029.017
fremde Schuld, durch zufällige und gewählte Lebensweise, durch Vorsatz ple_029.018
und Übereilung, durch Hartnäckigkeit und Nachgeben auf die gewaltsamste ple_029.019
Art hin und wieder getrieben worden. Ich fühlte mich wie nach einer ple_029.020
Generalbeichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt. ple_029.021
Das alte Hausmittel war mir diesmal vortrefflich zustatten gekommen. ple_029.022
Wie ich mich aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit ple_029.023
in Poesie verwandelt zu haben“, u. s. w.
ple_029.024
Man ist versucht, daran zu zweifeln, daß die dichterische Eigenart, ple_029.025
wie sie der Sechzigjährige hier rückschauend schildert, in der Tat schon ple_029.026
bei dem siebzehnjährigen Studenten zur Entfaltung gelangt ist, wie denn ple_029.027
auch die Leipziger Lieder im allgemeinen nicht eben der unbefangene ple_029.028
Ausdruck innerer Erlebnisse zu sein scheinen. Man möchte vielmehr ple_029.029
glauben, daß diese Eigenart erst unter dem entscheidenden Einfluß der ple_029.030
Straßburger Epoche, durch welche die erste Vollblüte des jugendlichen ple_029.031
Genius gezeitigt wurde, zum Durchbruch kam. Allein, sehen wir von dem ple_029.032
Zeitpunkt ab, so ist an der Tatsache selbst kein Zweifel möglich. Der ple_029.033
innere Drang, sich vom Druck leidenschaftlicher und schmerzlicher Zustände ple_029.034
zu befreien, den ihm äußere und innere Erlebnisse auferlegt haben, ple_029.035
ist es, der den Dichter zu seinen Schöpfungen treibt. Diese Schöpfungen ple_029.036
entstehen mithin durch eine Art Umsetzung jener Zustände und Erlebnisse. ple_029.037
Hier tritt also in einem klaren und faßlichen Selbstbericht ein psychologischer ple_029.038
Grundzug des schaffenden Vermögen unseres größten Dichters ple_029.039
scharf umrissen zutage. Daß sich die wissenschaftliche Behandlung Goethes ple_029.040
zu einer ihrer Aufgaben macht, diesen Zug in den einzelnen Werken des ple_029.041
Dichters nachzuweisen, ist durchaus berechtigt. Daß sie zu diesem Zweck ple_029.042
die Beziehungen zwischen Leben und Dichtung feststellen und hervorheben ple_029.043
muß, leuchtet ein. Nun aber hat die Goetheforschung der letzten Jahrzehnte
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |