Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_028.001 ple_028.031 ple_028.001 ple_028.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0042" n="28"/><lb n="ple_028.001"/> daß ihre Bedeutung für den Augenblick in dem Bewußtsein des Dichters <lb n="ple_028.002"/> zurücktreten mag, daß er sozusagen nur inneres Auge ist und sich auf die <lb n="ple_028.003"/> Bedeutung und den Zusammenhang dessen, was er sieht, zurückbesinnen <lb n="ple_028.004"/> muß. Daß sie aber unabhängig von diesem Zusammenhang in ihm auftauchen <lb n="ple_028.005"/> sollen, so daß er ihre Deutung erst nachträglich suchen und finden <lb n="ple_028.006"/> müßte, ist, wenn nicht unglaublich, so doch jedenfalls verstandesmäßig <lb n="ple_028.007"/> nicht begreiflich und daher auch nicht als psychologische Einsicht verwertbar. <lb n="ple_028.008"/> Otto Ludwig selbst scheint darüber keine rechte Klarheit zu besitzen; <lb n="ple_028.009"/> braucht er doch den verräterischen Ausdruck: „die Idee, die <hi rendition="#g">mir <lb n="ple_028.010"/> unbewußt</hi> die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen <lb n="ple_028.011"/> war“. Über nichts aber dürfte eine Selbsttäuschung leichter möglich sein <lb n="ple_028.012"/> als über die halb bewußten Vorstellungen, welche äußere Wahrnehmungen <lb n="ple_028.013"/> oder innere Anschauungsbilder begleiten, wie überhaupt über das Maß von <lb n="ple_028.014"/> Bewußtheit, von dem innere Vorgänge begleitet werden. Und um so leichter <lb n="ple_028.015"/> wird diese Selbsttäuschung, wie jede andere, aufkommen, wenn sie durch <lb n="ple_028.016"/> ein persönliches Interesse gefördert wird. Ein solches liegt aber sehr wahrscheinlicherweise <lb n="ple_028.017"/> hier vor. Das unbewußte Produzieren erschien seit Schillers <lb n="ple_028.018"/> naiver und sentimentalischer Dichtung, seit den Theorien der Romantiker als <lb n="ple_028.019"/> das Zeichen der eigentlichen Dichterkraft, und daß gerade ein reflektierender <lb n="ple_028.020"/> Dichter, wie Otto Ludwig, die bewußten oder halbbewußten Elemente <lb n="ple_028.021"/> seiner Phantasietätigkeit besonders betonte, in ihnen die Bürgschaft für <lb n="ple_028.022"/> sein dichterisches Vermögen sah und daher sich gern überredete, daß sie <lb n="ple_028.023"/> die wesentlichsten Momente seiner dichterischen Art zu schaffen bildeten, <lb n="ple_028.024"/> ist sehr begreiflich. Bedenken erweckt es schon, daß er im weiteren Verlauf <lb n="ple_028.025"/> der zweiten Stelle einen mißbilligenden Seitenblick auf Hebbel wirft, in <lb n="ple_028.026"/> welchem er mit Recht oder Unrecht einen ausschließlich verstandesmäßigen <lb n="ple_028.027"/> Dichter sah. Es ist mithin mindestens unvorsichtig, wenn man seine Aussagen <lb n="ple_028.028"/> in diesen Punkten unbesehen hinnimmt, noch unrichtiger freilich, <lb n="ple_028.029"/> wenn man sich überreden will, hier ein psychologisch klares Bild des <lb n="ple_028.030"/> dichterischen Vorganges zu erhalten.</p> <p><lb n="ple_028.031"/> Ein anderes, noch bedeutsameres Beispiel eines Selbstzeugnisses <lb n="ple_028.032"/> bietet uns Goethe. Bekanntlich hat er in einer Anzahl von Äußerungen, <lb n="ple_028.033"/> teils prinzipieller, teils gelegentlicher Natur, einen besonderen Ton auf den <lb n="ple_028.034"/> Zusammenhang zwischen seinen Erlebnissen und seinen Dichtungen gelegt. <lb n="ple_028.035"/> Am berühmtesten ist die folgende Äußerung zu Eckermann am <lb n="ple_028.036"/> 18. September 1823: „Die Welt ist so groß und reich und das Leben so <lb n="ple_028.037"/> mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es <lb n="ple_028.038"/> müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß <lb n="ple_028.039"/> die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch <lb n="ple_028.040"/> wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle <lb n="ple_028.041"/> meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit <lb n="ple_028.042"/> angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der <lb n="ple_028.043"/> Luft gegriffen halte ich nichts.“</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [28/0042]
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daß ihre Bedeutung für den Augenblick in dem Bewußtsein des Dichters ple_028.002
zurücktreten mag, daß er sozusagen nur inneres Auge ist und sich auf die ple_028.003
Bedeutung und den Zusammenhang dessen, was er sieht, zurückbesinnen ple_028.004
muß. Daß sie aber unabhängig von diesem Zusammenhang in ihm auftauchen ple_028.005
sollen, so daß er ihre Deutung erst nachträglich suchen und finden ple_028.006
müßte, ist, wenn nicht unglaublich, so doch jedenfalls verstandesmäßig ple_028.007
nicht begreiflich und daher auch nicht als psychologische Einsicht verwertbar. ple_028.008
Otto Ludwig selbst scheint darüber keine rechte Klarheit zu besitzen; ple_028.009
braucht er doch den verräterischen Ausdruck: „die Idee, die mir ple_028.010
unbewußt die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen ple_028.011
war“. Über nichts aber dürfte eine Selbsttäuschung leichter möglich sein ple_028.012
als über die halb bewußten Vorstellungen, welche äußere Wahrnehmungen ple_028.013
oder innere Anschauungsbilder begleiten, wie überhaupt über das Maß von ple_028.014
Bewußtheit, von dem innere Vorgänge begleitet werden. Und um so leichter ple_028.015
wird diese Selbsttäuschung, wie jede andere, aufkommen, wenn sie durch ple_028.016
ein persönliches Interesse gefördert wird. Ein solches liegt aber sehr wahrscheinlicherweise ple_028.017
hier vor. Das unbewußte Produzieren erschien seit Schillers ple_028.018
naiver und sentimentalischer Dichtung, seit den Theorien der Romantiker als ple_028.019
das Zeichen der eigentlichen Dichterkraft, und daß gerade ein reflektierender ple_028.020
Dichter, wie Otto Ludwig, die bewußten oder halbbewußten Elemente ple_028.021
seiner Phantasietätigkeit besonders betonte, in ihnen die Bürgschaft für ple_028.022
sein dichterisches Vermögen sah und daher sich gern überredete, daß sie ple_028.023
die wesentlichsten Momente seiner dichterischen Art zu schaffen bildeten, ple_028.024
ist sehr begreiflich. Bedenken erweckt es schon, daß er im weiteren Verlauf ple_028.025
der zweiten Stelle einen mißbilligenden Seitenblick auf Hebbel wirft, in ple_028.026
welchem er mit Recht oder Unrecht einen ausschließlich verstandesmäßigen ple_028.027
Dichter sah. Es ist mithin mindestens unvorsichtig, wenn man seine Aussagen ple_028.028
in diesen Punkten unbesehen hinnimmt, noch unrichtiger freilich, ple_028.029
wenn man sich überreden will, hier ein psychologisch klares Bild des ple_028.030
dichterischen Vorganges zu erhalten.
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Ein anderes, noch bedeutsameres Beispiel eines Selbstzeugnisses ple_028.032
bietet uns Goethe. Bekanntlich hat er in einer Anzahl von Äußerungen, ple_028.033
teils prinzipieller, teils gelegentlicher Natur, einen besonderen Ton auf den ple_028.034
Zusammenhang zwischen seinen Erlebnissen und seinen Dichtungen gelegt. ple_028.035
Am berühmtesten ist die folgende Äußerung zu Eckermann am ple_028.036
18. September 1823: „Die Welt ist so groß und reich und das Leben so ple_028.037
mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es ple_028.038
müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß ple_028.039
die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch ple_028.040
wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle ple_028.041
meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit ple_028.042
angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der ple_028.043
Luft gegriffen halte ich nichts.“
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