Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_027.001 ple_027.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0041" n="27"/><lb n="ple_027.001"/> dann nach vor- und rückwärts die übrigen Szenen, in derselben visionären <lb n="ple_027.002"/> Art plastisch erblickt, anschließen, ohne daß der Dichter sich des inneren <lb n="ple_027.003"/> Zusammenhangs irgendwie bewußt wäre; denn diesen sucht und findet er <lb n="ple_027.004"/> erst nachher und zwar „mit kritischen Augen“. Es liegt also zunächst ein <lb n="ple_027.005"/> visionäres Erlebnis vor, das dann verstandesmäßig gedeutet wird. Nun ist <lb n="ple_027.006"/> es wohl denkbar, daß sich der Vorgang so, wie geschildert, zuträgt, wo <lb n="ple_027.007"/> es sich um ein einzelnes Bild, eine bestimmte Szene handelt, die entweder <lb n="ple_027.008"/> für sich allein den Inhalt einer Dichtung bildet, oder an die sich die <lb n="ple_027.009"/> weitere Erfindung anschließt. In Edgar Allan Poes novellistischen Schilderungen <lb n="ple_027.010"/> — man denke an die „Maske des roten Todes“ oder „den Untergang <lb n="ple_027.011"/> des Hauses Usher“, in E. Th. A. Hoffmanns Erzählungen, in Andersens <lb n="ple_027.012"/> Märchen — ist das zweifellos häufig der Fall; auch in Konr. Ferd. Meyers <lb n="ple_027.013"/> Novellen scheint nicht selten solch ein visionär gesehenes Bild den Ausgangspunkt <lb n="ple_027.014"/> zu bilden, — man denke an die Schlußszene in Jürg Jenatsch <lb n="ple_027.015"/> oder in der Richterin. Wie aber auf die von Ludwig geschilderte Weise <lb n="ple_027.016"/> eine große psychologisch entwickelnde Dichtung zustande kommen soll, <lb n="ple_027.017"/> ist sicherlich nicht einzusehen. Schon daß der Dichter den „tragischen <lb n="ple_027.018"/> Widerspruch“ im Ausdruck seiner Gestalt sinnlich angeschaut haben will, <lb n="ple_027.019"/> ohne ihn seinem Inhalt nach zu kennen, ist schwer glaublich; auch sagt <lb n="ple_027.020"/> er ja gelegentlich von seiner Bernauerin das Gegenteil. Noch schwerer <lb n="ple_027.021"/> verständlich aber ist der weitere Vorgang. Denkbar ist, daß den Ausgangspunkt <lb n="ple_027.022"/> für den Dichter eine einzelne <hi rendition="#g">gesehene</hi> Situation oder Gestalt <lb n="ple_027.023"/> bildet; wie sich daran aber Bilder reihen sollen, ohne daß ein Zusammenhang <lb n="ple_027.024"/> mit jenem ersten sie heraufführte oder doch, ohne daß dieser Zusammenhang <lb n="ple_027.025"/> dem Dichter irgendwie zum Bewußtsein käme, ist mindestens <lb n="ple_027.026"/> nicht verständlich. Denkbar ist, daß bei einem frei erfundenen Stoff, wie <lb n="ple_027.027"/> „Zwischen Himmel und Erde“, die erste Konzeption als halluzinatorisches <lb n="ple_027.028"/> Bild auftritt; nach dem Anblick etwa eines hohen Turms bildet die Phantasie <lb n="ple_027.029"/> des Dichters zwei Männer auf der Höhe: der eine sucht in jähem <lb n="ple_027.030"/> Anlauf den andern herunterzureißen und stürzt, da jener ausweicht, an ihm <lb n="ple_027.031"/> vorbei in die Tiefe. Sieht nun aber der Dichter auf dem gleichen Turm <lb n="ple_027.032"/> einen dritten oder einen beliebigen Mann unter Lebensgefahr die brennenden <lb n="ple_027.033"/> Dachsparren herabreißen, oder sieht er denselben, der vorher der <lb n="ple_027.034"/> Überlebende war? Offenbar ist das letztere gemeint. Dann aber muß ein <lb n="ple_027.035"/> innerer Zusammenhang bereits zugrunde liegen. Der Held sühnt den Tod <lb n="ple_027.036"/> des Bruders, den er selbst nicht verschuldet, durch eine Heldentat an der <lb n="ple_027.037"/> Stelle, wo die Katastrophe vor sich ging. — Es ist dasselbe Weib, die Mutter <lb n="ple_027.038"/> der Makkabäer, seine gewaltige Leah, die der Dichter sich in königlichem <lb n="ple_027.039"/> Stolze zum Siegesreigen erheben sieht, die nachher, hilflos an den Baum <lb n="ple_027.040"/> gebunden, nach ihren weggerissenen Kindern ohnmächtig die Arme ausstreckt <lb n="ple_027.041"/> und die endlich an der Marterstätte ihrer Söhne sich zum höchsten <lb n="ple_027.042"/> Heldentum emporrafft. Solche Bilder können, wenn sie einmal aufgetaucht <lb n="ple_027.043"/> sind, so lebendig in den Einzelheiten, so halluzinatorisch greifbar werden, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [27/0041]
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dann nach vor- und rückwärts die übrigen Szenen, in derselben visionären ple_027.002
Art plastisch erblickt, anschließen, ohne daß der Dichter sich des inneren ple_027.003
Zusammenhangs irgendwie bewußt wäre; denn diesen sucht und findet er ple_027.004
erst nachher und zwar „mit kritischen Augen“. Es liegt also zunächst ein ple_027.005
visionäres Erlebnis vor, das dann verstandesmäßig gedeutet wird. Nun ist ple_027.006
es wohl denkbar, daß sich der Vorgang so, wie geschildert, zuträgt, wo ple_027.007
es sich um ein einzelnes Bild, eine bestimmte Szene handelt, die entweder ple_027.008
für sich allein den Inhalt einer Dichtung bildet, oder an die sich die ple_027.009
weitere Erfindung anschließt. In Edgar Allan Poes novellistischen Schilderungen ple_027.010
— man denke an die „Maske des roten Todes“ oder „den Untergang ple_027.011
des Hauses Usher“, in E. Th. A. Hoffmanns Erzählungen, in Andersens ple_027.012
Märchen — ist das zweifellos häufig der Fall; auch in Konr. Ferd. Meyers ple_027.013
Novellen scheint nicht selten solch ein visionär gesehenes Bild den Ausgangspunkt ple_027.014
zu bilden, — man denke an die Schlußszene in Jürg Jenatsch ple_027.015
oder in der Richterin. Wie aber auf die von Ludwig geschilderte Weise ple_027.016
eine große psychologisch entwickelnde Dichtung zustande kommen soll, ple_027.017
ist sicherlich nicht einzusehen. Schon daß der Dichter den „tragischen ple_027.018
Widerspruch“ im Ausdruck seiner Gestalt sinnlich angeschaut haben will, ple_027.019
ohne ihn seinem Inhalt nach zu kennen, ist schwer glaublich; auch sagt ple_027.020
er ja gelegentlich von seiner Bernauerin das Gegenteil. Noch schwerer ple_027.021
verständlich aber ist der weitere Vorgang. Denkbar ist, daß den Ausgangspunkt ple_027.022
für den Dichter eine einzelne gesehene Situation oder Gestalt ple_027.023
bildet; wie sich daran aber Bilder reihen sollen, ohne daß ein Zusammenhang ple_027.024
mit jenem ersten sie heraufführte oder doch, ohne daß dieser Zusammenhang ple_027.025
dem Dichter irgendwie zum Bewußtsein käme, ist mindestens ple_027.026
nicht verständlich. Denkbar ist, daß bei einem frei erfundenen Stoff, wie ple_027.027
„Zwischen Himmel und Erde“, die erste Konzeption als halluzinatorisches ple_027.028
Bild auftritt; nach dem Anblick etwa eines hohen Turms bildet die Phantasie ple_027.029
des Dichters zwei Männer auf der Höhe: der eine sucht in jähem ple_027.030
Anlauf den andern herunterzureißen und stürzt, da jener ausweicht, an ihm ple_027.031
vorbei in die Tiefe. Sieht nun aber der Dichter auf dem gleichen Turm ple_027.032
einen dritten oder einen beliebigen Mann unter Lebensgefahr die brennenden ple_027.033
Dachsparren herabreißen, oder sieht er denselben, der vorher der ple_027.034
Überlebende war? Offenbar ist das letztere gemeint. Dann aber muß ein ple_027.035
innerer Zusammenhang bereits zugrunde liegen. Der Held sühnt den Tod ple_027.036
des Bruders, den er selbst nicht verschuldet, durch eine Heldentat an der ple_027.037
Stelle, wo die Katastrophe vor sich ging. — Es ist dasselbe Weib, die Mutter ple_027.038
der Makkabäer, seine gewaltige Leah, die der Dichter sich in königlichem ple_027.039
Stolze zum Siegesreigen erheben sieht, die nachher, hilflos an den Baum ple_027.040
gebunden, nach ihren weggerissenen Kindern ohnmächtig die Arme ausstreckt ple_027.041
und die endlich an der Marterstätte ihrer Söhne sich zum höchsten ple_027.042
Heldentum emporrafft. Solche Bilder können, wenn sie einmal aufgetaucht ple_027.043
sind, so lebendig in den Einzelheiten, so halluzinatorisch greifbar werden,
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