Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_019.001 ple_019.004 ple_019.018 ple_019.001 ple_019.004 ple_019.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0033" n="19"/><lb n="ple_019.001"/> Erfahrung als erklärendes Moment ein“ (S. 67 ff.). Dabei hat er aber <lb n="ple_019.002"/> auch hier die seltsame Idee, daß es sich „um Erschöpfung der möglichen <lb n="ple_019.003"/> Fälle handeln“ müsse.</p> <p><lb n="ple_019.004"/> Ueber die Mängel dieser Formulierungen und die Unzulänglichkeit <lb n="ple_019.005"/> dessen, was Scherer an positivem Material beibringt, zu rechten, wäre ungerecht <lb n="ple_019.006"/> und zwecklos. Seine psychologischen Kenntnisse gingen nicht <lb n="ple_019.007"/> tief, und zudem ist ja alles, was das Buch entwickelt, nur Entwurf und <lb n="ple_019.008"/> Skizze. Trotz alledem ist mit der Forderung nach einer Psychologie des <lb n="ple_019.009"/> Dichters und seines Publikums ein neuer und bedeutungsvoller Gesichtspunkt <lb n="ple_019.010"/> in die deutsche Poetik eingeführt, vermutlich nicht ohne direkte Einwirkung <lb n="ple_019.011"/> Taines und jedenfalls im Einklang mit ihm. Wieweit er sich für <lb n="ple_019.012"/> das Gebiet der Poetik fruchtbar erwiesen hat, lassen wir zunächst dahingestellt <lb n="ple_019.013"/> sein. Auf alle Fälle steht er der früheren, rein objektiven Betrachtungsart, <lb n="ple_019.014"/> die stets vom fertigen Kunstwerk und seinen Wirkungen <lb n="ple_019.015"/> ausgeht, bedeutsam gegenüber. Es ist ein Gedanke, der ganz in der <lb n="ple_019.016"/> Richtung moderner Wissenschaft liegt, und hier ist es denn auch, wo <lb n="ple_019.017"/> Dilthey am entschiedensten mit Scherer zusammentrifft.</p> <p><lb n="ple_019.018"/> Auch <hi rendition="#g">Diltheys</hi> „Bausteine zu einer Poetik“ (der Obertitel „Die Einbildungskraft <lb n="ple_019.019"/> des Dichters“ deckt genau genommen nur die erste Hälfte) <lb n="ple_019.020"/> sind, wie schon der Name besagt, eine Skizze, fragmentarisch entworfen <lb n="ple_019.021"/> und ungleich ausgeführt. In der Gesamtrichtung tritt entschiedene Verwandtschaft <lb n="ple_019.022"/> mit Scherers Vorlesungen hervor; ja die persönliche Berührung <lb n="ple_019.023"/> beider Gelehrten macht sich an mancher Stelle geltend. Wie Scherer verlangt <lb n="ple_019.024"/> Dilthey von der Poetik, „daß sie den entscheidenden Schritt tue, <lb n="ple_019.025"/> eine moderne Wissenschaft zu werden“. Auch <hi rendition="#g">seine</hi> Überzeugung ist, <lb n="ple_019.026"/> daß eine solche Wissenschaft nur empirisch sein kann. Aber seine Arbeit <lb n="ple_019.027"/> ist aus einem Guß und frei von dem Sprunghaften des Schererschen Entwurfs; <lb n="ple_019.028"/> ein einheitlicher Gedankengang beherrscht das Ganze, und von <lb n="ple_019.029"/> vorneherein zeigt sich Dilthey als der reifere und klarere Denker. Wo <lb n="ple_019.030"/> Scherer kurzerhand entschieden ist, sieht er die Probleme, die in der Tiefe <lb n="ple_019.031"/> liegen. So erscheint ihm der Standpunkt, den jener als festen Ausgangspunkt <lb n="ple_019.032"/> einnimmt, gerade das Grundproblem der Poetik zu enthalten. „Die <lb n="ple_019.033"/> Aufgabe der Poetik ist: kann sie allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche <lb n="ple_019.034"/> als Regeln des Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und <lb n="ple_019.035"/> wie verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu diesen <lb n="ple_019.036"/> allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die überall auf den Geisteswissenschaften <lb n="ple_019.037"/> lastende Schwierigkeit, allgemeingültige Sätze abzuleiten aus <lb n="ple_019.038"/> den inneren Erfahrungen, die so persönlich beschränkt, so unbestimmt, <lb n="ple_019.039"/> so zusammengesetzt und doch unzerlegbar sind?“ (S. 310). Um diese Frage <lb n="ple_019.040"/> zu lösen, kann die Poetik einen doppelten Weg einschlagen. „Die einen <lb n="ple_019.041"/> Ästhetiker gehen von dem Äußeren zum Inneren und leiten aus dem <lb n="ple_019.042"/> ästhetischen Eindruck die Absicht des Künstlers ab, ihn hervorzurufen, <lb n="ple_019.043"/> dann hieraus die Entstehung einer Technik, die ihn bestimmt. Die anderen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [19/0033]
ple_019.001
Erfahrung als erklärendes Moment ein“ (S. 67 ff.). Dabei hat er aber ple_019.002
auch hier die seltsame Idee, daß es sich „um Erschöpfung der möglichen ple_019.003
Fälle handeln“ müsse.
ple_019.004
Ueber die Mängel dieser Formulierungen und die Unzulänglichkeit ple_019.005
dessen, was Scherer an positivem Material beibringt, zu rechten, wäre ungerecht ple_019.006
und zwecklos. Seine psychologischen Kenntnisse gingen nicht ple_019.007
tief, und zudem ist ja alles, was das Buch entwickelt, nur Entwurf und ple_019.008
Skizze. Trotz alledem ist mit der Forderung nach einer Psychologie des ple_019.009
Dichters und seines Publikums ein neuer und bedeutungsvoller Gesichtspunkt ple_019.010
in die deutsche Poetik eingeführt, vermutlich nicht ohne direkte Einwirkung ple_019.011
Taines und jedenfalls im Einklang mit ihm. Wieweit er sich für ple_019.012
das Gebiet der Poetik fruchtbar erwiesen hat, lassen wir zunächst dahingestellt ple_019.013
sein. Auf alle Fälle steht er der früheren, rein objektiven Betrachtungsart, ple_019.014
die stets vom fertigen Kunstwerk und seinen Wirkungen ple_019.015
ausgeht, bedeutsam gegenüber. Es ist ein Gedanke, der ganz in der ple_019.016
Richtung moderner Wissenschaft liegt, und hier ist es denn auch, wo ple_019.017
Dilthey am entschiedensten mit Scherer zusammentrifft.
ple_019.018
Auch Diltheys „Bausteine zu einer Poetik“ (der Obertitel „Die Einbildungskraft ple_019.019
des Dichters“ deckt genau genommen nur die erste Hälfte) ple_019.020
sind, wie schon der Name besagt, eine Skizze, fragmentarisch entworfen ple_019.021
und ungleich ausgeführt. In der Gesamtrichtung tritt entschiedene Verwandtschaft ple_019.022
mit Scherers Vorlesungen hervor; ja die persönliche Berührung ple_019.023
beider Gelehrten macht sich an mancher Stelle geltend. Wie Scherer verlangt ple_019.024
Dilthey von der Poetik, „daß sie den entscheidenden Schritt tue, ple_019.025
eine moderne Wissenschaft zu werden“. Auch seine Überzeugung ist, ple_019.026
daß eine solche Wissenschaft nur empirisch sein kann. Aber seine Arbeit ple_019.027
ist aus einem Guß und frei von dem Sprunghaften des Schererschen Entwurfs; ple_019.028
ein einheitlicher Gedankengang beherrscht das Ganze, und von ple_019.029
vorneherein zeigt sich Dilthey als der reifere und klarere Denker. Wo ple_019.030
Scherer kurzerhand entschieden ist, sieht er die Probleme, die in der Tiefe ple_019.031
liegen. So erscheint ihm der Standpunkt, den jener als festen Ausgangspunkt ple_019.032
einnimmt, gerade das Grundproblem der Poetik zu enthalten. „Die ple_019.033
Aufgabe der Poetik ist: kann sie allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche ple_019.034
als Regeln des Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und ple_019.035
wie verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu diesen ple_019.036
allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die überall auf den Geisteswissenschaften ple_019.037
lastende Schwierigkeit, allgemeingültige Sätze abzuleiten aus ple_019.038
den inneren Erfahrungen, die so persönlich beschränkt, so unbestimmt, ple_019.039
so zusammengesetzt und doch unzerlegbar sind?“ (S. 310). Um diese Frage ple_019.040
zu lösen, kann die Poetik einen doppelten Weg einschlagen. „Die einen ple_019.041
Ästhetiker gehen von dem Äußeren zum Inneren und leiten aus dem ple_019.042
ästhetischen Eindruck die Absicht des Künstlers ab, ihn hervorzurufen, ple_019.043
dann hieraus die Entstehung einer Technik, die ihn bestimmt. Die anderen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |