Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_253.001 ple_253.022 ple_253.035 ple_253.001 ple_253.022 ple_253.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0267" n="253"/><lb n="ple_253.001"/> auf sein ursprüngliches Publikum im Athenischen Theater so gewirkt hat. <lb n="ple_253.002"/> Die überaus hohe Wertschätzung, welche diese „Enthüllungstragödie“ (siehe <lb n="ple_253.003"/> oben S. 177) im späteren Altertum, namentlich aber bei unseren deutschen <lb n="ple_253.004"/> Klassikern gefunden hat, ist nur aus der technischen Meisterschaft zu verstehen, <lb n="ple_253.005"/> mit der sie gearbeitet und durch die sie in formaler Hinsicht in der <lb n="ple_253.006"/> Tat vorbildlich ist. Falsch ist es auch, was manche neueren Ästhetiker gewollt <lb n="ple_253.007"/> haben, die grundsätzliche Anschauung, die den König Ödipus beherrscht, <lb n="ple_253.008"/> als typisch für die gesamte griechische Tragik anzusehen und hieraus einen <lb n="ple_253.009"/> Unterschied zwischen antiker und moderner Tragödie ableiten zu wollen. <lb n="ple_253.010"/> Nur in einigen wenigen Euripideischen Dramen wird, soviel uns bekannt ist, <lb n="ple_253.011"/> dem von den Göttern verhängten Geschick eine ähnliche Macht eingeräumt, <lb n="ple_253.012"/> und wir wissen, wie skeptisch Euripides selbst den Sagen und Historien gegenüber <lb n="ple_253.013"/> stand, die er dramatisierte. Aber sowohl in Äschylos' Prometheus wie <lb n="ple_253.014"/> in Sophokles' Elektra und Philoktet, noch deutlicher aber in der Medea <lb n="ple_253.015"/> und anderen Stücken des Euripides tritt die entgegengesetzte Auffassung <lb n="ple_253.016"/> deutlich hervor. Der Mensch wird von innen her durch seine Natur, seine <lb n="ple_253.017"/> Leidenschaften und Erlebnisse zu seinen Handlungen bestimmt, und diese <lb n="ple_253.018"/> sind es, die ihm sein Schicksal bereiten. Wenn in diesen Tragödien und <lb n="ple_253.019"/> im tragischen Epos (Ilias) die Götter den Sinn der Menschen lenken, ihren <lb n="ple_253.020"/> Zorn oder ihre Begierde erwecken oder beschwichtigen, so ist das eine <lb n="ple_253.021"/> Art von naiv gläubiger Psychologie, aber kein Fatalismus.</p> <p><lb n="ple_253.022"/> Daher ist denn auch die deutsche Schicksalsdramatik, die es unternahm, <lb n="ple_253.023"/> „in des Zufalls grausenden Wundern“ das furchtbare und geheimnisvolle <lb n="ple_253.024"/> Walten einer ewigen göttlichen Macht zu zeigen, ein haltloses Gebilde, <lb n="ple_253.025"/> das schwerlich zu vorübergehender Wirkung gelangt wäre, hätte ihm <lb n="ple_253.026"/> nicht die skrupellos geschickte Bühnentechnik der Werner und Müllner dazu <lb n="ple_253.027"/> verholfen. Ja, selbst Schillers Braut von Messina ist trotz der Fülle dichterischer <lb n="ple_253.028"/> Schönheiten nur ein verfehlter Versuch, die antike Tragik in einem <lb n="ple_253.029"/> Sinne wieder lebendig zu machen, der ihr als Gesamterscheinung gar nicht <lb n="ple_253.030"/> eigen war. Geistvoll, ja tiefsinnig hat Schiller das Schicksal in die alles <lb n="ple_253.031"/> beherrschende Gewalt der Natur und ihrer Gesetze umgedeutet. Aber die <lb n="ple_253.032"/> dichterische Fruchtbarkeit dieses Gedankens ist durch das Orakelwesen <lb n="ple_253.033"/> und die übrigen geheimnisvollen Zufälle, die er einführt, doch wieder getrübt <lb n="ple_253.034"/> und veräußerlicht.</p> <p><lb n="ple_253.035"/> Die tragische Notwendigkeit also muß, wie die dichterische Notwendigkeit <lb n="ple_253.036"/> überhaupt, eine innerliche sein. Sie kommt nur zustande, wenn <lb n="ple_253.037"/> die Idee der Dichtung, die den Untergang des Helden als Konsequenz des <lb n="ple_253.038"/> tragischen Gegensatzes erfordert, mit einer psychologischen Anlage und <lb n="ple_253.039"/> Entwicklung zusammentrifft, die zum Untergang treibt. Nur aus einer <lb n="ple_253.040"/> lückenlosen psychologischen Entwicklung wird uns die Handlung überhaupt <lb n="ple_253.041"/> verständlich, aber der ideale Zusammenhang erst vermag dem psychologischen <lb n="ple_253.042"/> Geschehen den Charakter des Typischen, allgemein Gültigen zu <lb n="ple_253.043"/> geben. Wo dieser fehlt, erscheint auch das psychologisch Richtige leicht </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [253/0267]
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auf sein ursprüngliches Publikum im Athenischen Theater so gewirkt hat. ple_253.002
Die überaus hohe Wertschätzung, welche diese „Enthüllungstragödie“ (siehe ple_253.003
oben S. 177) im späteren Altertum, namentlich aber bei unseren deutschen ple_253.004
Klassikern gefunden hat, ist nur aus der technischen Meisterschaft zu verstehen, ple_253.005
mit der sie gearbeitet und durch die sie in formaler Hinsicht in der ple_253.006
Tat vorbildlich ist. Falsch ist es auch, was manche neueren Ästhetiker gewollt ple_253.007
haben, die grundsätzliche Anschauung, die den König Ödipus beherrscht, ple_253.008
als typisch für die gesamte griechische Tragik anzusehen und hieraus einen ple_253.009
Unterschied zwischen antiker und moderner Tragödie ableiten zu wollen. ple_253.010
Nur in einigen wenigen Euripideischen Dramen wird, soviel uns bekannt ist, ple_253.011
dem von den Göttern verhängten Geschick eine ähnliche Macht eingeräumt, ple_253.012
und wir wissen, wie skeptisch Euripides selbst den Sagen und Historien gegenüber ple_253.013
stand, die er dramatisierte. Aber sowohl in Äschylos' Prometheus wie ple_253.014
in Sophokles' Elektra und Philoktet, noch deutlicher aber in der Medea ple_253.015
und anderen Stücken des Euripides tritt die entgegengesetzte Auffassung ple_253.016
deutlich hervor. Der Mensch wird von innen her durch seine Natur, seine ple_253.017
Leidenschaften und Erlebnisse zu seinen Handlungen bestimmt, und diese ple_253.018
sind es, die ihm sein Schicksal bereiten. Wenn in diesen Tragödien und ple_253.019
im tragischen Epos (Ilias) die Götter den Sinn der Menschen lenken, ihren ple_253.020
Zorn oder ihre Begierde erwecken oder beschwichtigen, so ist das eine ple_253.021
Art von naiv gläubiger Psychologie, aber kein Fatalismus.
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Daher ist denn auch die deutsche Schicksalsdramatik, die es unternahm, ple_253.023
„in des Zufalls grausenden Wundern“ das furchtbare und geheimnisvolle ple_253.024
Walten einer ewigen göttlichen Macht zu zeigen, ein haltloses Gebilde, ple_253.025
das schwerlich zu vorübergehender Wirkung gelangt wäre, hätte ihm ple_253.026
nicht die skrupellos geschickte Bühnentechnik der Werner und Müllner dazu ple_253.027
verholfen. Ja, selbst Schillers Braut von Messina ist trotz der Fülle dichterischer ple_253.028
Schönheiten nur ein verfehlter Versuch, die antike Tragik in einem ple_253.029
Sinne wieder lebendig zu machen, der ihr als Gesamterscheinung gar nicht ple_253.030
eigen war. Geistvoll, ja tiefsinnig hat Schiller das Schicksal in die alles ple_253.031
beherrschende Gewalt der Natur und ihrer Gesetze umgedeutet. Aber die ple_253.032
dichterische Fruchtbarkeit dieses Gedankens ist durch das Orakelwesen ple_253.033
und die übrigen geheimnisvollen Zufälle, die er einführt, doch wieder getrübt ple_253.034
und veräußerlicht.
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Die tragische Notwendigkeit also muß, wie die dichterische Notwendigkeit ple_253.036
überhaupt, eine innerliche sein. Sie kommt nur zustande, wenn ple_253.037
die Idee der Dichtung, die den Untergang des Helden als Konsequenz des ple_253.038
tragischen Gegensatzes erfordert, mit einer psychologischen Anlage und ple_253.039
Entwicklung zusammentrifft, die zum Untergang treibt. Nur aus einer ple_253.040
lückenlosen psychologischen Entwicklung wird uns die Handlung überhaupt ple_253.041
verständlich, aber der ideale Zusammenhang erst vermag dem psychologischen ple_253.042
Geschehen den Charakter des Typischen, allgemein Gültigen zu ple_253.043
geben. Wo dieser fehlt, erscheint auch das psychologisch Richtige leicht
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