Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_251.001 ple_251.003 ple_251.030 ple_251.001 ple_251.003 ple_251.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0265" n="251"/><lb n="ple_251.001"/> fällt. Daher hat das Intriguenstück wohl auf der komischen, aber nicht <lb n="ple_251.002"/> auf der tragischen Bühne Heimatsrecht gefunden.</p> <p><lb n="ple_251.003"/> Sobald aber auch auf der Gegenseite Werte persönlicher oder ideeller <lb n="ple_251.004"/> Natur stehen, vertieft sich die Tragik, und erhöht sich dementsprechend die <lb n="ple_251.005"/> Wirkung. Wenn der Held nicht gegen Feinde, sondern gegen Blutsverwandte <lb n="ple_251.006"/> und Freunde kämpfen muß, wenn er Pflichten und Ideale verletzt, <lb n="ple_251.007"/> die er verehrt, wenn er leidet, auch da, wo er siegt, dann erregt er <lb n="ple_251.008"/> unser Mitleid von vornherein in weit höherem Maße. Darum hatten die <lb n="ple_251.009"/> antiken Tragödiendichter eine Vorliebe für die schreckensvollen Stammsagen <lb n="ple_251.010"/> der Atriden und Labdakiden, darum stellt Schiller in der Mehrzahl <lb n="ple_251.011"/> seiner Dramen Kämpfe zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und <lb n="ple_251.012"/> Bruder dar, oder er läßt, noch ergreifender, die nächsten Freunde durch <lb n="ple_251.013"/> den Gegensatz der Willensrichtung in unheilbaren Zwiespalt geraten. Und <lb n="ple_251.014"/> noch mehr vertieft sich die Tragik, wenn mit diesen menschlichen Beziehungen <lb n="ple_251.015"/> zugleich sachliche oder ideelle Werte auf beiden Seiten wirksam <lb n="ple_251.016"/> sind. So in Shakespeares Coriolan und im Julius Cäsar, in Hebbels Agnes <lb n="ple_251.017"/> Bernauer und seiner Kriemhild. In allen diesen und vielen anderen tragischen <lb n="ple_251.018"/> Dichtungen bildet den Mittelpunkt der Kampf zweier Werte, der <lb n="ple_251.019"/> den einheitlichen Willen von innen heraus spaltet und bricht und so den <lb n="ple_251.020"/> tragischen Ausgang notwendig herbeiführt, — sei es nun ein Konflikt zwischen <lb n="ple_251.021"/> Neigung und Pflicht oder zwischen zwei entgegenstehenden sittlichen <lb n="ple_251.022"/> Geboten. Tragische Verwicklungen dieser Art bedürfen nicht des <lb n="ple_251.023"/> Hasses und der Bosheit; sie ergreifen am tiefsten, wenn der tragische <lb n="ple_251.024"/> Gegensatz zur Verletzung, ja zur Vernichtung führt, ohne daß die handelnden <lb n="ple_251.025"/> Personen einander verletzen und vernichten wollen; wenn Othellos <lb n="ple_251.026"/> furchtbares „Die Sache will's“ das herrschende Motiv der Handlung <lb n="ple_251.027"/> bildet. Goethes Clavigo und die Wahlverwandtschaften, Grillparzers <lb n="ple_251.028"/> Sappho, Hebbels Gyges und die bereits genannte Agnes Bernauer sind <lb n="ple_251.029"/> Beispiele.</p> <p><lb n="ple_251.030"/> Es bedarf in solchen Fällen nun freilich einer Konstellation feindlicher <lb n="ple_251.031"/> Umstände, um den Konflikt zustande zu bringen, und die Schwierigkeit <lb n="ple_251.032"/> für den Dichter beruht darauf, diese Konstellation weder rein zufällig <lb n="ple_251.033"/> noch durch eine äußere Schicksalsmacht fatalistisch bestimmt erscheinen <lb n="ple_251.034"/> zu lassen. Ganz freilich ist der Zufall aus dem äußeren Geschehen <lb n="ple_251.035"/> ein für allemal nicht auszuscheiden, aber räumt ihm der Dichter <lb n="ple_251.036"/> an irgend einer Stelle einen entscheidenden Einfluß ein, so zerstört er das <lb n="ple_251.037"/> Gefühl der inneren Notwendigkeit, das uns zwingt, an seine Welt zu <lb n="ple_251.038"/> glauben. So ist in Schillers Jungfrau das entscheidende Zusammentreffen <lb n="ple_251.039"/> mit Lionel, noch mehr aber der Umstand, daß Johanna dem Feinde den <lb n="ple_251.040"/> Helm vom Kopf reißt und sein Gesicht sieht, ein reiner Zufall, der auch <lb n="ple_251.041"/> als solcher wirkt. Auch in Shakespeares Romeo spielt der Zufall bedenklich <lb n="ple_251.042"/> mit: wäre Lorenzos Brief rechtzeitig in die Hände des Helden gekommen, <lb n="ple_251.043"/> so wäre der tragische Ausgang vermieden.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [251/0265]
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fällt. Daher hat das Intriguenstück wohl auf der komischen, aber nicht ple_251.002
auf der tragischen Bühne Heimatsrecht gefunden.
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Sobald aber auch auf der Gegenseite Werte persönlicher oder ideeller ple_251.004
Natur stehen, vertieft sich die Tragik, und erhöht sich dementsprechend die ple_251.005
Wirkung. Wenn der Held nicht gegen Feinde, sondern gegen Blutsverwandte ple_251.006
und Freunde kämpfen muß, wenn er Pflichten und Ideale verletzt, ple_251.007
die er verehrt, wenn er leidet, auch da, wo er siegt, dann erregt er ple_251.008
unser Mitleid von vornherein in weit höherem Maße. Darum hatten die ple_251.009
antiken Tragödiendichter eine Vorliebe für die schreckensvollen Stammsagen ple_251.010
der Atriden und Labdakiden, darum stellt Schiller in der Mehrzahl ple_251.011
seiner Dramen Kämpfe zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und ple_251.012
Bruder dar, oder er läßt, noch ergreifender, die nächsten Freunde durch ple_251.013
den Gegensatz der Willensrichtung in unheilbaren Zwiespalt geraten. Und ple_251.014
noch mehr vertieft sich die Tragik, wenn mit diesen menschlichen Beziehungen ple_251.015
zugleich sachliche oder ideelle Werte auf beiden Seiten wirksam ple_251.016
sind. So in Shakespeares Coriolan und im Julius Cäsar, in Hebbels Agnes ple_251.017
Bernauer und seiner Kriemhild. In allen diesen und vielen anderen tragischen ple_251.018
Dichtungen bildet den Mittelpunkt der Kampf zweier Werte, der ple_251.019
den einheitlichen Willen von innen heraus spaltet und bricht und so den ple_251.020
tragischen Ausgang notwendig herbeiführt, — sei es nun ein Konflikt zwischen ple_251.021
Neigung und Pflicht oder zwischen zwei entgegenstehenden sittlichen ple_251.022
Geboten. Tragische Verwicklungen dieser Art bedürfen nicht des ple_251.023
Hasses und der Bosheit; sie ergreifen am tiefsten, wenn der tragische ple_251.024
Gegensatz zur Verletzung, ja zur Vernichtung führt, ohne daß die handelnden ple_251.025
Personen einander verletzen und vernichten wollen; wenn Othellos ple_251.026
furchtbares „Die Sache will's“ das herrschende Motiv der Handlung ple_251.027
bildet. Goethes Clavigo und die Wahlverwandtschaften, Grillparzers ple_251.028
Sappho, Hebbels Gyges und die bereits genannte Agnes Bernauer sind ple_251.029
Beispiele.
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Es bedarf in solchen Fällen nun freilich einer Konstellation feindlicher ple_251.031
Umstände, um den Konflikt zustande zu bringen, und die Schwierigkeit ple_251.032
für den Dichter beruht darauf, diese Konstellation weder rein zufällig ple_251.033
noch durch eine äußere Schicksalsmacht fatalistisch bestimmt erscheinen ple_251.034
zu lassen. Ganz freilich ist der Zufall aus dem äußeren Geschehen ple_251.035
ein für allemal nicht auszuscheiden, aber räumt ihm der Dichter ple_251.036
an irgend einer Stelle einen entscheidenden Einfluß ein, so zerstört er das ple_251.037
Gefühl der inneren Notwendigkeit, das uns zwingt, an seine Welt zu ple_251.038
glauben. So ist in Schillers Jungfrau das entscheidende Zusammentreffen ple_251.039
mit Lionel, noch mehr aber der Umstand, daß Johanna dem Feinde den ple_251.040
Helm vom Kopf reißt und sein Gesicht sieht, ein reiner Zufall, der auch ple_251.041
als solcher wirkt. Auch in Shakespeares Romeo spielt der Zufall bedenklich ple_251.042
mit: wäre Lorenzos Brief rechtzeitig in die Hände des Helden gekommen, ple_251.043
so wäre der tragische Ausgang vermieden.
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