Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_249.001 ple_249.015 ple_249.037 ple_249.040 ple_249.001 ple_249.015 ple_249.037 ple_249.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0263" n="249"/><lb n="ple_249.001"/> es dem Dichter gelingt, unsere Sympathie für die Persönlichkeit seines <lb n="ple_249.002"/> Helden zu erwecken, desto kraftvoller und bedeutsamer tritt der Wert der <lb n="ple_249.003"/> sittlichen Idee hervor, der er unterliegt. Es beweist nichts und erschüttert <lb n="ple_249.004"/> uns nicht, wenn wir schwache oder gleichgütige Naturen an ihr scheitern <lb n="ple_249.005"/> sehen, wohl aber, wenn wir ihr solche, die wir lieben und bewundern, gewissermaßen <lb n="ple_249.006"/> zum Opfer bringen müssen. Daher ist es ein oft angewandtes <lb n="ple_249.007"/> künstlerisches Mittel tragischer Dichter im Epos wie im Drama, ihre Bösewichter <lb n="ple_249.008"/> kurz vor der Katastrophe sympathischer erscheinen zu lassen als <lb n="ple_249.009"/> vorher. Schon der Nibelungendichter hat es instinktiv angewandt, als er <lb n="ple_249.010"/> seinen Hagen mit Volker Freundschaft schließen und die Todeswache halten <lb n="ple_249.011"/> ließ. Dasselbe erreicht Shakespeare durch Richards III. Monolog nach der <lb n="ple_249.012"/> Traumszene, und die Kunst, den Helden vor dem Untergang mit einer <lb n="ple_249.013"/> Gloriole von Menschlichkeit und Heldengröße zugleich zu umweben, ist <lb n="ple_249.014"/> im fünften Akt von Wallensteins Tod zur ergreifendsten Wirkung gesteigert.</p> <p><lb n="ple_249.015"/> Es gibt nun freilich auch eine ganze Anzahl tragischer Dichtungen, <lb n="ple_249.016"/> denen es an einem erhebenden Moment der genannten drei Arten überhaupt <lb n="ple_249.017"/> fehlt, und mit einem gewissen Recht unterscheidet Volkelt daher das <lb n="ple_249.018"/> Tragische der niederdrückenden Art von dem der befreienden. Hier triumphiert <lb n="ple_249.019"/> am Schluß kein Ideal über Zeit und Tod; die Persönlichkeit wird <lb n="ple_249.020"/> von innen heraus aufgerieben und zerstört; wir sehen nur Vernichtung, <lb n="ple_249.021"/> keinen Wert, der sie überdauert. So ist es in vielen Shakespeareschen <lb n="ple_249.022"/> Tragödien, namentlich der letzten Epoche: im Hamlet, im Lear, vor allem <lb n="ple_249.023"/> im Othello. Hebbels Maria Magdalena, Ibsens Gespenster und Wildente <lb n="ple_249.024"/> und eine ganze Anzahl moderner naturalistischer Dramen, namentlich auch <lb n="ple_249.025"/> Gerhart Hauptmanns Weber, Fuhrmann Henschel u. a. gehören hierher. <lb n="ple_249.026"/> Aber es ist nicht zu leugnen, daß allen solchen Tragödien etwas tief Unbefriedigendes <lb n="ple_249.027"/> anhaftet, daß ein Ausgang ohne Erhebung und Versöhnung <lb n="ple_249.028"/> entweder gleichgültig läßt, wie die Schlächterei am Schluß des Hamlet, oder <lb n="ple_249.029"/> gar ein Gefühl von ohnmächtiger Empörung hervorruft, wie im Othello und <lb n="ple_249.030"/> der Maria Magdalena. Mag man daher auch immerhin literarhistorisch berechtigt <lb n="ple_249.031"/> sein, solche Entwicklungen und Ausgänge tragisch zu nennen — <lb n="ple_249.032"/> dem Wesen der tragischen Kunst, ja, der künstlerischen Wirkung überhaupt <lb n="ple_249.033"/> entspricht der Eindruck nicht, den sie hinterlassen. Ein Überschuß von <lb n="ple_249.034"/> Unlust bleibt zurück, der sich mit dem Begriff des ästhetischen Genusses <lb n="ple_249.035"/> nicht verträgt: das Gesetz des künstlerischen Abschlusses, wie wir es im <lb n="ple_249.036"/> zehnten Abschnitt kennen gelernt haben, ist verletzt.</p> <p><lb n="ple_249.037"/> Ist uns mit dem Bisherigen das <hi rendition="#g">Wesen</hi> des Tragischen deutlich geworden, <lb n="ple_249.038"/> so müssen wir nunmehr die <hi rendition="#g">Bedingungen</hi> ins Auge fassen, <lb n="ple_249.039"/> durch die es sich in der Dichtung verwirklicht.</p> <p><lb n="ple_249.040"/> Zunächst, woher rührt das Leiden des Helden? Welches sind die <lb n="ple_249.041"/> tragischen Gegenmächte, an denen sein Wollen und Tun scheitert? Sie <lb n="ple_249.042"/> <hi rendition="#g">können</hi> offenbar rein äußerer Natur sein, so daß ihnen im Innern des </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [249/0263]
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es dem Dichter gelingt, unsere Sympathie für die Persönlichkeit seines ple_249.002
Helden zu erwecken, desto kraftvoller und bedeutsamer tritt der Wert der ple_249.003
sittlichen Idee hervor, der er unterliegt. Es beweist nichts und erschüttert ple_249.004
uns nicht, wenn wir schwache oder gleichgütige Naturen an ihr scheitern ple_249.005
sehen, wohl aber, wenn wir ihr solche, die wir lieben und bewundern, gewissermaßen ple_249.006
zum Opfer bringen müssen. Daher ist es ein oft angewandtes ple_249.007
künstlerisches Mittel tragischer Dichter im Epos wie im Drama, ihre Bösewichter ple_249.008
kurz vor der Katastrophe sympathischer erscheinen zu lassen als ple_249.009
vorher. Schon der Nibelungendichter hat es instinktiv angewandt, als er ple_249.010
seinen Hagen mit Volker Freundschaft schließen und die Todeswache halten ple_249.011
ließ. Dasselbe erreicht Shakespeare durch Richards III. Monolog nach der ple_249.012
Traumszene, und die Kunst, den Helden vor dem Untergang mit einer ple_249.013
Gloriole von Menschlichkeit und Heldengröße zugleich zu umweben, ist ple_249.014
im fünften Akt von Wallensteins Tod zur ergreifendsten Wirkung gesteigert.
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Es gibt nun freilich auch eine ganze Anzahl tragischer Dichtungen, ple_249.016
denen es an einem erhebenden Moment der genannten drei Arten überhaupt ple_249.017
fehlt, und mit einem gewissen Recht unterscheidet Volkelt daher das ple_249.018
Tragische der niederdrückenden Art von dem der befreienden. Hier triumphiert ple_249.019
am Schluß kein Ideal über Zeit und Tod; die Persönlichkeit wird ple_249.020
von innen heraus aufgerieben und zerstört; wir sehen nur Vernichtung, ple_249.021
keinen Wert, der sie überdauert. So ist es in vielen Shakespeareschen ple_249.022
Tragödien, namentlich der letzten Epoche: im Hamlet, im Lear, vor allem ple_249.023
im Othello. Hebbels Maria Magdalena, Ibsens Gespenster und Wildente ple_249.024
und eine ganze Anzahl moderner naturalistischer Dramen, namentlich auch ple_249.025
Gerhart Hauptmanns Weber, Fuhrmann Henschel u. a. gehören hierher. ple_249.026
Aber es ist nicht zu leugnen, daß allen solchen Tragödien etwas tief Unbefriedigendes ple_249.027
anhaftet, daß ein Ausgang ohne Erhebung und Versöhnung ple_249.028
entweder gleichgültig läßt, wie die Schlächterei am Schluß des Hamlet, oder ple_249.029
gar ein Gefühl von ohnmächtiger Empörung hervorruft, wie im Othello und ple_249.030
der Maria Magdalena. Mag man daher auch immerhin literarhistorisch berechtigt ple_249.031
sein, solche Entwicklungen und Ausgänge tragisch zu nennen — ple_249.032
dem Wesen der tragischen Kunst, ja, der künstlerischen Wirkung überhaupt ple_249.033
entspricht der Eindruck nicht, den sie hinterlassen. Ein Überschuß von ple_249.034
Unlust bleibt zurück, der sich mit dem Begriff des ästhetischen Genusses ple_249.035
nicht verträgt: das Gesetz des künstlerischen Abschlusses, wie wir es im ple_249.036
zehnten Abschnitt kennen gelernt haben, ist verletzt.
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Ist uns mit dem Bisherigen das Wesen des Tragischen deutlich geworden, ple_249.038
so müssen wir nunmehr die Bedingungen ins Auge fassen, ple_249.039
durch die es sich in der Dichtung verwirklicht.
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Zunächst, woher rührt das Leiden des Helden? Welches sind die ple_249.041
tragischen Gegenmächte, an denen sein Wollen und Tun scheitert? Sie ple_249.042
können offenbar rein äußerer Natur sein, so daß ihnen im Innern des
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