Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_247.001 ple_247.012 ple_247.022 ple_247.001 ple_247.012 ple_247.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0261" n="247"/><lb n="ple_247.001"/> Sinne, d. h. das Vermögen, Pflicht über Neigung, das Sittengesetz über <lb n="ple_247.002"/> die Triebe zu stellen, war ihm unmittelbar oder mittelbar die alleinige <lb n="ple_247.003"/> Grundlage des Erhabenen und Pathetischen. Wir haben schon oben gesehen, <lb n="ple_247.004"/> daß diese Umgrenzung zu eng ist. Aber ein erster Fall, in dem <lb n="ple_247.005"/> das Wesen des Tragischen typisch hervortritt, ist damit richtig bezeichnet: <lb n="ple_247.006"/> der Held verkämpft in Tun und Leiden ein sittliches Ideal; indem er <lb n="ple_247.007"/> sich für dasselbe opfert, tritt es in seiner ganzen Bedeutung, in seiner <lb n="ple_247.008"/> ganzen Macht und Höhe hervor. So Antigone, so Shakespeares Brutus <lb n="ple_247.009"/> und Lessings Emilia. Begreiflicherweise vertreten fast alle Schillerschen <lb n="ple_247.010"/> Helden diesen Typus. Aber auch in Hebbels Gyges, in Ibsens Brand und <lb n="ple_247.011"/> seinem Volksfeind erscheint er.</p> <p><lb n="ple_247.012"/> Der umgekehrte Fall nun ist der, daß der Held die sittliche Idee <lb n="ple_247.013"/> verletzt oder bekämpft, aber im vergeblichen Kampfe erliegt. Dieses letztere <lb n="ple_247.014"/> geschieht entweder indem er die triumphierende Idee anerkennt, sich der <lb n="ple_247.015"/> verletzten zur Sühne opfert, wie Sophokles' Ajas und Shakespeares Coriolan, <lb n="ple_247.016"/> Schillers Karl Moor und Don Cesar, Goethes Stella und Ottilie, Hebbels <lb n="ple_247.017"/> Golo und Ibsens Rebekka; — oder indem er ihr widerwillig zum Opfer <lb n="ple_247.018"/> fällt: Klytämnestra, Richard III. und Macbeth, Franz Moor und Fiesco, <lb n="ple_247.019"/> Grillparzers Jason und sein König Ottokar. Die erstere Art wird man gut <lb n="ple_247.020"/> tun als das <hi rendition="#g">Tragische der Schuld und Sühne,</hi> die zweite als das <hi rendition="#g">des <lb n="ple_247.021"/> Verbrechens und der Strafe</hi> zu bezeichnen.</p> <p><lb n="ple_247.022"/> Freilich, der äußere Triumph der Moral über ihre Gegner wirkt an <lb n="ple_247.023"/> sich nicht tragisch. Der Untergang Jagos, Edmunds im Lear und ähnlicher <lb n="ple_247.024"/> Bösewichter erfüllt uns zwar mit Genugtuung, befriedigt unser Gerechtigkeitsbedürfnis, <lb n="ple_247.025"/> aber das Gefühl der tragischen Erhebung hat damit <lb n="ple_247.026"/> nichts zu schaffen. Worin liegt der Unterschied, was fehlt hier zur tragischen <lb n="ple_247.027"/> Wirkung? Darüber kann uns ein dritter Fall belehren. Es ist <lb n="ple_247.028"/> der, daß der Held nicht für ein sittliches Ideal, sondern für persönliche <lb n="ple_247.029"/> Ziele kämpft und leidet. Instinkte, die an dem Maßstab der Moral gar <lb n="ple_247.030"/> nicht gemessen werden können, erfüllen und lenken ihn: Liebe, Ehrgeiz, <lb n="ple_247.031"/> die Lust zu wirken und zu herrschen. Diese Triebe wachsen zu Mächten <lb n="ple_247.032"/> aus, die den Menschen völlig beherrschen; er leidet und stirbt lieber, <lb n="ple_247.033"/> als daß er ihnen entsagte; sie erscheinen als Naturgewalten, die ihn erfüllen, <lb n="ple_247.034"/> mit seinem innersten Selbst verwachsen. „Verbiete du dem Seidenwurm, <lb n="ple_247.035"/> zu spinnen, wenn er sich schon dem Tode näher spinnt“, diese <lb n="ple_247.036"/> Antwort Tassos bezeichnet die tragische Gewalt solcher Mächte. Aber <lb n="ple_247.037"/> was bleibt von ihnen, wenn sie ihr Gefäß zerbrochen haben, was überdauert <lb n="ple_247.038"/> hier den Untergang des Helden? Es ist offenbar der Gesamteindruck <lb n="ple_247.039"/> der Persönlichkeit in ihrem einzigen individuellen Wert, der <lb n="ple_247.040"/> zurückbleibt, wenn ein Werther, ein Wallenstein untergeht. Das Gefühl, <lb n="ple_247.041"/> daß, was in einem höheren Sinne einmal lebendig war, auch lebendig <lb n="ple_247.042"/> bleibt, solange es noch empfunden und angeschaut werden kann; daß <lb n="ple_247.043"/> in diesem Sinne die Persönlichkeit den Tod überdauert, das ist es, woraus </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [247/0261]
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Sinne, d. h. das Vermögen, Pflicht über Neigung, das Sittengesetz über ple_247.002
die Triebe zu stellen, war ihm unmittelbar oder mittelbar die alleinige ple_247.003
Grundlage des Erhabenen und Pathetischen. Wir haben schon oben gesehen, ple_247.004
daß diese Umgrenzung zu eng ist. Aber ein erster Fall, in dem ple_247.005
das Wesen des Tragischen typisch hervortritt, ist damit richtig bezeichnet: ple_247.006
der Held verkämpft in Tun und Leiden ein sittliches Ideal; indem er ple_247.007
sich für dasselbe opfert, tritt es in seiner ganzen Bedeutung, in seiner ple_247.008
ganzen Macht und Höhe hervor. So Antigone, so Shakespeares Brutus ple_247.009
und Lessings Emilia. Begreiflicherweise vertreten fast alle Schillerschen ple_247.010
Helden diesen Typus. Aber auch in Hebbels Gyges, in Ibsens Brand und ple_247.011
seinem Volksfeind erscheint er.
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Der umgekehrte Fall nun ist der, daß der Held die sittliche Idee ple_247.013
verletzt oder bekämpft, aber im vergeblichen Kampfe erliegt. Dieses letztere ple_247.014
geschieht entweder indem er die triumphierende Idee anerkennt, sich der ple_247.015
verletzten zur Sühne opfert, wie Sophokles' Ajas und Shakespeares Coriolan, ple_247.016
Schillers Karl Moor und Don Cesar, Goethes Stella und Ottilie, Hebbels ple_247.017
Golo und Ibsens Rebekka; — oder indem er ihr widerwillig zum Opfer ple_247.018
fällt: Klytämnestra, Richard III. und Macbeth, Franz Moor und Fiesco, ple_247.019
Grillparzers Jason und sein König Ottokar. Die erstere Art wird man gut ple_247.020
tun als das Tragische der Schuld und Sühne, die zweite als das des ple_247.021
Verbrechens und der Strafe zu bezeichnen.
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Freilich, der äußere Triumph der Moral über ihre Gegner wirkt an ple_247.023
sich nicht tragisch. Der Untergang Jagos, Edmunds im Lear und ähnlicher ple_247.024
Bösewichter erfüllt uns zwar mit Genugtuung, befriedigt unser Gerechtigkeitsbedürfnis, ple_247.025
aber das Gefühl der tragischen Erhebung hat damit ple_247.026
nichts zu schaffen. Worin liegt der Unterschied, was fehlt hier zur tragischen ple_247.027
Wirkung? Darüber kann uns ein dritter Fall belehren. Es ist ple_247.028
der, daß der Held nicht für ein sittliches Ideal, sondern für persönliche ple_247.029
Ziele kämpft und leidet. Instinkte, die an dem Maßstab der Moral gar ple_247.030
nicht gemessen werden können, erfüllen und lenken ihn: Liebe, Ehrgeiz, ple_247.031
die Lust zu wirken und zu herrschen. Diese Triebe wachsen zu Mächten ple_247.032
aus, die den Menschen völlig beherrschen; er leidet und stirbt lieber, ple_247.033
als daß er ihnen entsagte; sie erscheinen als Naturgewalten, die ihn erfüllen, ple_247.034
mit seinem innersten Selbst verwachsen. „Verbiete du dem Seidenwurm, ple_247.035
zu spinnen, wenn er sich schon dem Tode näher spinnt“, diese ple_247.036
Antwort Tassos bezeichnet die tragische Gewalt solcher Mächte. Aber ple_247.037
was bleibt von ihnen, wenn sie ihr Gefäß zerbrochen haben, was überdauert ple_247.038
hier den Untergang des Helden? Es ist offenbar der Gesamteindruck ple_247.039
der Persönlichkeit in ihrem einzigen individuellen Wert, der ple_247.040
zurückbleibt, wenn ein Werther, ein Wallenstein untergeht. Das Gefühl, ple_247.041
daß, was in einem höheren Sinne einmal lebendig war, auch lebendig ple_247.042
bleibt, solange es noch empfunden und angeschaut werden kann; daß ple_247.043
in diesem Sinne die Persönlichkeit den Tod überdauert, das ist es, woraus
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