Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_237.001 ple_237.006 ple_237.001 ple_237.006 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0251" n="237"/><lb n="ple_237.001"/> diese Art der satirischen Standesschilderungen besonders häufig und zwar <lb n="ple_237.002"/> zumeist durchaus ernsthaft. Man denke an Ibsens Typen des Großkaufmanns <lb n="ple_237.003"/> in den Stützen der Gesellschaft, des korrekten und herzlosen Beamten <lb n="ple_237.004"/> in der Nora und dem Volksfeind, des wohlmeinenden aber beschränkten <lb n="ple_237.005"/> Geistlichen in den Gespenstern.</p> <p><lb n="ple_237.006"/> Neben die politische und soziale tritt als eine besondere Abart der <lb n="ple_237.007"/> Gattung die <hi rendition="#g">literarische</hi> Satire; eine Abart, denn sie setzt statt der sittlichen <lb n="ple_237.008"/> ästhetische oder intellektuelle Werte ein und steht mithin der reinen <lb n="ple_237.009"/> Komik näher als jene. Daher ist sie auch fast stets scherzhaft gehalten <lb n="ple_237.010"/> und erscheint zumeist als <hi rendition="#g">Parodie</hi> oder als <hi rendition="#g">Travestie.</hi> Der Charakter <lb n="ple_237.011"/> der Travestie ist, daß sie das Erhabene als gemein, das der Parodie, daß <lb n="ple_237.012"/> sie das Gemeine als erhaben behandelt. Die <hi rendition="#g">Travestie</hi> stellt das dem <lb n="ple_237.013"/> Inhalt nach Bedeutsame in trivialen oder lächerlichen Formen dar, wie <lb n="ple_237.014"/> Shakespeare und Gryphius die Geschichte von Pyramus und Thisbe, oder <lb n="ple_237.015"/> sie versetzt es willkürlich mit Banalitäten, wie Offenbachs mythologischen <lb n="ple_237.016"/> Operetten. Gerne lehnt sie sich dabei an eine bestimmte dichterische Vorlage <lb n="ple_237.017"/> ernsten Charakters an, wie Blumauers Äneide. Auch die <hi rendition="#g">Parodie</hi> <lb n="ple_237.018"/> begnügt sich oft damit, einer Vorlage hohen Stils die Form zu entlehnen <lb n="ple_237.019"/> und diese auf einen möglichst heterogenen Inhalt zu übertragen, wie in der <lb n="ple_237.020"/> berühmtesten parodistischen Dichtung des Altertums, dem Froschmäusekrieg. <lb n="ple_237.021"/> Aber diese Klasse von Scherzen, die ganz auf dem Gegensatz zwischen <lb n="ple_237.022"/> Inhalt und Form beruhen, bleibt immer äußerlich und auf das niedere Gebiet <lb n="ple_237.023"/> der Komik beschränkt; zu einer tieferen Bedeutsamkeit gelangen beide erst, <lb n="ple_237.024"/> wenn sie die Schwächen und Unzulänglichkeiten, die dem Erhabenen und <lb n="ple_237.025"/> Großen anhaften, hervorheben, also den Inhalt selbst verspotten und damit <lb n="ple_237.026"/> ins Gebiet der Satire treten: Lucians Göttergespräche und Shakespeares <lb n="ple_237.027"/> Troilus und Cressida geben Beispiele davon. Auch hier hebt sich <lb n="ple_237.028"/> deutlich die harmlose Art, die nur zur Erheiterung scherzend Schwächen <lb n="ple_237.029"/> hervorhebt, ohne es böse zu meinen, von dem ernsthaften, mit satirischen <lb n="ple_237.030"/> Waffen geführten Kampf ab, der den Gegner durch Spott vernichten will. <lb n="ple_237.031"/> Von der ersteren, der harmlosen Gattung gibt Mauthners anmutiges parodistisches <lb n="ple_237.032"/> Büchlein „Nach berühmten Mustern“, ein Beispiel; die letztere <lb n="ple_237.033"/> tritt uns begreiflicherweise besonders da entgegen, wo, nach einem Ausdruck <lb n="ple_237.034"/> Goethes, eine literarische Epoche sich aus der vorhergehenden durch <lb n="ple_237.035"/> Widerspruch entwickelt. So schon in den Fröschen des Aristophanes und <lb n="ple_237.036"/> seinen zahlreichen sonstigen Verhöhnungen des Euripides. Hier ist es die <lb n="ple_237.037"/> neu aufkommende Richtung, die ironisch abgelehnt wird; von dauernderer <lb n="ple_237.038"/> Wirksamkeit freilich pflegen die Spottgeschosse zu sein, welche <lb n="ple_237.039"/> umgekehrt eine vorwärts stürmende Jugend gegen das Althergebrachte <lb n="ple_237.040"/> und Geltende richtet. Goethes satirische Jugenddramen, besonders seine <lb n="ple_237.041"/> Bekämpfung der Rokokoantike in „Götter, Helden und Wieland“ haben <lb n="ple_237.042"/> den scherzhaft verspottenden Ton in der deutschen Literatur angeschlagen. <lb n="ple_237.043"/> Verstärkt und verschärft haben ihn die Romantiker, so besonders Tieck </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [237/0251]
ple_237.001
diese Art der satirischen Standesschilderungen besonders häufig und zwar ple_237.002
zumeist durchaus ernsthaft. Man denke an Ibsens Typen des Großkaufmanns ple_237.003
in den Stützen der Gesellschaft, des korrekten und herzlosen Beamten ple_237.004
in der Nora und dem Volksfeind, des wohlmeinenden aber beschränkten ple_237.005
Geistlichen in den Gespenstern.
ple_237.006
Neben die politische und soziale tritt als eine besondere Abart der ple_237.007
Gattung die literarische Satire; eine Abart, denn sie setzt statt der sittlichen ple_237.008
ästhetische oder intellektuelle Werte ein und steht mithin der reinen ple_237.009
Komik näher als jene. Daher ist sie auch fast stets scherzhaft gehalten ple_237.010
und erscheint zumeist als Parodie oder als Travestie. Der Charakter ple_237.011
der Travestie ist, daß sie das Erhabene als gemein, das der Parodie, daß ple_237.012
sie das Gemeine als erhaben behandelt. Die Travestie stellt das dem ple_237.013
Inhalt nach Bedeutsame in trivialen oder lächerlichen Formen dar, wie ple_237.014
Shakespeare und Gryphius die Geschichte von Pyramus und Thisbe, oder ple_237.015
sie versetzt es willkürlich mit Banalitäten, wie Offenbachs mythologischen ple_237.016
Operetten. Gerne lehnt sie sich dabei an eine bestimmte dichterische Vorlage ple_237.017
ernsten Charakters an, wie Blumauers Äneide. Auch die Parodie ple_237.018
begnügt sich oft damit, einer Vorlage hohen Stils die Form zu entlehnen ple_237.019
und diese auf einen möglichst heterogenen Inhalt zu übertragen, wie in der ple_237.020
berühmtesten parodistischen Dichtung des Altertums, dem Froschmäusekrieg. ple_237.021
Aber diese Klasse von Scherzen, die ganz auf dem Gegensatz zwischen ple_237.022
Inhalt und Form beruhen, bleibt immer äußerlich und auf das niedere Gebiet ple_237.023
der Komik beschränkt; zu einer tieferen Bedeutsamkeit gelangen beide erst, ple_237.024
wenn sie die Schwächen und Unzulänglichkeiten, die dem Erhabenen und ple_237.025
Großen anhaften, hervorheben, also den Inhalt selbst verspotten und damit ple_237.026
ins Gebiet der Satire treten: Lucians Göttergespräche und Shakespeares ple_237.027
Troilus und Cressida geben Beispiele davon. Auch hier hebt sich ple_237.028
deutlich die harmlose Art, die nur zur Erheiterung scherzend Schwächen ple_237.029
hervorhebt, ohne es böse zu meinen, von dem ernsthaften, mit satirischen ple_237.030
Waffen geführten Kampf ab, der den Gegner durch Spott vernichten will. ple_237.031
Von der ersteren, der harmlosen Gattung gibt Mauthners anmutiges parodistisches ple_237.032
Büchlein „Nach berühmten Mustern“, ein Beispiel; die letztere ple_237.033
tritt uns begreiflicherweise besonders da entgegen, wo, nach einem Ausdruck ple_237.034
Goethes, eine literarische Epoche sich aus der vorhergehenden durch ple_237.035
Widerspruch entwickelt. So schon in den Fröschen des Aristophanes und ple_237.036
seinen zahlreichen sonstigen Verhöhnungen des Euripides. Hier ist es die ple_237.037
neu aufkommende Richtung, die ironisch abgelehnt wird; von dauernderer ple_237.038
Wirksamkeit freilich pflegen die Spottgeschosse zu sein, welche ple_237.039
umgekehrt eine vorwärts stürmende Jugend gegen das Althergebrachte ple_237.040
und Geltende richtet. Goethes satirische Jugenddramen, besonders seine ple_237.041
Bekämpfung der Rokokoantike in „Götter, Helden und Wieland“ haben ple_237.042
den scherzhaft verspottenden Ton in der deutschen Literatur angeschlagen. ple_237.043
Verstärkt und verschärft haben ihn die Romantiker, so besonders Tieck
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |