Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_233.001 ple_233.018 ple_233.032 ple_233.042 ple_233.001 ple_233.018 ple_233.032 ple_233.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0247" n="233"/><lb n="ple_233.001"/> scherzhaften Satire zugrunde liegt. Sie behandelt tatsächlich die Fehler <lb n="ple_233.002"/> und Schwächen der Menschen als Narrheiten und die Zustände, die aus <lb n="ple_233.003"/> ihnen hervorgehen, als Verirrungen, die dem Spott des Weiterblickenden <lb n="ple_233.004"/> preisgegeben werden. Diese Grundstimmung der spottenden Satire hat <lb n="ple_233.005"/> Schiller selbst in schönen Worten gekennzeichnet: „Ihr Ziel ist einerlei mit <lb n="ple_233.006"/> dem Höchsten, wonach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft <lb n="ple_233.007"/> zu sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall <lb n="ple_233.008"/> mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu <lb n="ple_233.009"/> lachen, als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“ Es ist die Stimmung, <lb n="ple_233.010"/> die uns aus Goethes Cophtischem Lied entgegentönt: <lb n="ple_233.011"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>„Lasset Gelehrte sich zanken und streiten,</l><lb n="ple_233.012"/><l>Streng und bedächtig die Lehrer auch sein!</l><lb n="ple_233.013"/><l>Alle die Weisesten aller der Zeiten</l><lb n="ple_233.014"/><l>Lächeln und winken und stimmen mit ein:</l><lb n="ple_233.015"/><l>Töricht, auf Bessrung der Toren zu harren!</l><lb n="ple_233.016"/><l>Kinder der Klugheit, o habet die Narren</l><lb n="ple_233.017"/><l>Eben zum Narren auch, wie sich's gehört!“</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_233.018"/> Freilich muß noch eine zweite Forderung erfüllt sein, um die scherzhafte <lb n="ple_233.019"/> Satire möglich zu machen. Es ist die aristotelische Grundbedingung <lb n="ple_233.020"/> aller komischen Wirkung überhaupt: wir dürfen nicht sehen, daß die moralische <lb n="ple_233.021"/> Verkehrtheit schädliche Folgen hat; sonst schlägt unsere lächelnde Mißachtung <lb n="ple_233.022"/> in Entrüstung um, und die Satire wird ernsthaft, ja pathetisch. Offenbar <lb n="ple_233.023"/> aber hängt es auch hier mehr vom Verfahren des Dichters als vom Stoff <lb n="ple_233.024"/> ab, ob er unseren Blick auf diese Folgen lenken will oder nicht. Der spielwütige <lb n="ple_233.025"/> Offizier, der seine Familie ruiniert, ist bei Iffland eine sehr ernsthafte <lb n="ple_233.026"/> Gestalt, der Abenteurer und Falschspieler Riccaut bei Lessing eine durchaus <lb n="ple_233.027"/> komische. Nur deshalb bleibt Schillers Kapuzinerpredigt innerhalb des rein <lb n="ple_233.028"/> Komischen, weil sie auf die Soldaten keine Wirkung ausübt: würden wir <lb n="ple_233.029"/> etwa (was dem Verlauf des Dramas besser entspräche) sehen, daß die Hetzereien <lb n="ple_233.030"/> des Pfaffen die Stellung des Feldherrn untergrüben, so würde die Satire <lb n="ple_233.031"/> ernsthaft und die Wirkung auf den Zuschauer nicht mehr belustigend sein.</p> <p><lb n="ple_233.032"/> Ein Umschlag von der pathetischen in die scherzhafte Satire und umgekehrt <lb n="ple_233.033"/> ist daher nicht immer leicht durchführbar, da beide eben von verschiedenen <lb n="ple_233.034"/> Standpunkten aus ihren Gegenstand betrachten. Gleichwohl <lb n="ple_233.035"/> kommt er nicht selten vor. Schon Aristophanes zeigt uns im Auftreten <lb n="ple_233.036"/> des Äschylos in den Fröschen und in der Streitszene zwischen den beiden <lb n="ple_233.037"/> Anwälten in den Wolken, wie sich aus spottendem Scherz ein furchtbar <lb n="ple_233.038"/> richtender Ernst erheben kann. Ähnliches sehen wir in manchen Molièreschen <lb n="ple_233.039"/> Lustspielen, namentlich im Misanthrop. Umgekehrt schlägt bei <lb n="ple_233.040"/> Schillers Hofmarschall von Kalb der pathetische Ernst der satirischen Grundstimmung <lb n="ple_233.041"/> in drastischen Spott um.</p> <p><lb n="ple_233.042"/> Es gibt keine Lebenskreise, keine gesellschaftlichen Zustände, wo <lb n="ple_233.043"/> nicht Schein und Wahrheit, äußere Geltung und innere Hohlheit in irgend </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [233/0247]
ple_233.001
scherzhaften Satire zugrunde liegt. Sie behandelt tatsächlich die Fehler ple_233.002
und Schwächen der Menschen als Narrheiten und die Zustände, die aus ple_233.003
ihnen hervorgehen, als Verirrungen, die dem Spott des Weiterblickenden ple_233.004
preisgegeben werden. Diese Grundstimmung der spottenden Satire hat ple_233.005
Schiller selbst in schönen Worten gekennzeichnet: „Ihr Ziel ist einerlei mit ple_233.006
dem Höchsten, wonach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft ple_233.007
zu sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall ple_233.008
mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu ple_233.009
lachen, als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“ Es ist die Stimmung, ple_233.010
die uns aus Goethes Cophtischem Lied entgegentönt: ple_233.011
„Lasset Gelehrte sich zanken und streiten, ple_233.012
Streng und bedächtig die Lehrer auch sein! ple_233.013
Alle die Weisesten aller der Zeiten ple_233.014
Lächeln und winken und stimmen mit ein: ple_233.015
Töricht, auf Bessrung der Toren zu harren! ple_233.016
Kinder der Klugheit, o habet die Narren ple_233.017
Eben zum Narren auch, wie sich's gehört!“
ple_233.018
Freilich muß noch eine zweite Forderung erfüllt sein, um die scherzhafte ple_233.019
Satire möglich zu machen. Es ist die aristotelische Grundbedingung ple_233.020
aller komischen Wirkung überhaupt: wir dürfen nicht sehen, daß die moralische ple_233.021
Verkehrtheit schädliche Folgen hat; sonst schlägt unsere lächelnde Mißachtung ple_233.022
in Entrüstung um, und die Satire wird ernsthaft, ja pathetisch. Offenbar ple_233.023
aber hängt es auch hier mehr vom Verfahren des Dichters als vom Stoff ple_233.024
ab, ob er unseren Blick auf diese Folgen lenken will oder nicht. Der spielwütige ple_233.025
Offizier, der seine Familie ruiniert, ist bei Iffland eine sehr ernsthafte ple_233.026
Gestalt, der Abenteurer und Falschspieler Riccaut bei Lessing eine durchaus ple_233.027
komische. Nur deshalb bleibt Schillers Kapuzinerpredigt innerhalb des rein ple_233.028
Komischen, weil sie auf die Soldaten keine Wirkung ausübt: würden wir ple_233.029
etwa (was dem Verlauf des Dramas besser entspräche) sehen, daß die Hetzereien ple_233.030
des Pfaffen die Stellung des Feldherrn untergrüben, so würde die Satire ple_233.031
ernsthaft und die Wirkung auf den Zuschauer nicht mehr belustigend sein.
ple_233.032
Ein Umschlag von der pathetischen in die scherzhafte Satire und umgekehrt ple_233.033
ist daher nicht immer leicht durchführbar, da beide eben von verschiedenen ple_233.034
Standpunkten aus ihren Gegenstand betrachten. Gleichwohl ple_233.035
kommt er nicht selten vor. Schon Aristophanes zeigt uns im Auftreten ple_233.036
des Äschylos in den Fröschen und in der Streitszene zwischen den beiden ple_233.037
Anwälten in den Wolken, wie sich aus spottendem Scherz ein furchtbar ple_233.038
richtender Ernst erheben kann. Ähnliches sehen wir in manchen Molièreschen ple_233.039
Lustspielen, namentlich im Misanthrop. Umgekehrt schlägt bei ple_233.040
Schillers Hofmarschall von Kalb der pathetische Ernst der satirischen Grundstimmung ple_233.041
in drastischen Spott um.
ple_233.042
Es gibt keine Lebenskreise, keine gesellschaftlichen Zustände, wo ple_233.043
nicht Schein und Wahrheit, äußere Geltung und innere Hohlheit in irgend
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |