Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_229.001 ple_229.021 ple_229.041 ple_229.001 ple_229.021 ple_229.041 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0243" n="229"/><lb n="ple_229.001"/> wie denn überhaupt das ganze moralisierende Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts <lb n="ple_229.002"/> diese Methode befolgt. Wenn aber die Gestaltung feiner und <lb n="ple_229.003"/> innerlicher wird, so treten neben dem komischen Hauptzug auch die übrigen <lb n="ple_229.004"/> Charaktereigenschaften anschaulich hervor, und wir gewinnen auf diese Weise <lb n="ple_229.005"/> das Gesamtbild eines lebendigen Menschen, den wir verstehen, ja mit dem <lb n="ple_229.006"/> wir vielleicht sympathisieren, während wir zugleich über ihn lachen. Die <lb n="ple_229.007"/> komische Wirkung beruht dann darauf, daß sich das innere Wesen entweder <lb n="ple_229.008"/> in einer extremen und barocken Weise äußert oder in einem Selbstwiderspruch <lb n="ple_229.009"/> zutage tritt. Das wird vor allem bei Dickens in einer Reihe <lb n="ple_229.010"/> von Gestalten anschaulich: Herr Pickwick, Herr und Frau Micawber, <lb n="ple_229.011"/> Betsey Trotwood u. a. Auch Fritz Reuter hat besonders in der Stromtid <lb n="ple_229.012"/> ähnliches erreicht. Auf dieser höchsten Stufe der Charakterkomik tritt <lb n="ple_229.013"/> dann nicht selten das erwähnte primitive Mittel wieder auf, die einseitige <lb n="ple_229.014"/> Hervorhebung einzelner Züge der Erscheinung, einzelner Gewohnheiten <lb n="ple_229.015"/> und Redewendungen. Aber es ist hier nur <hi rendition="#g">Mittel</hi> zur Charakteristik, zur <lb n="ple_229.016"/> Veranschaulichung der lebendigen Erscheinung, und geht nicht darauf <lb n="ple_229.017"/> aus, unmittelbar Gelächter zu erregen, wie in der Posse. Dickens weiß <lb n="ple_229.018"/> solche äußerliche Züge mit vollendeter Meisterschaft zu schildern und zu <lb n="ple_229.019"/> benutzen; wir haben einige Beispiele davon schon oben (S. 88) herangezogen. <lb n="ple_229.020"/> —</p> <p><lb n="ple_229.021"/> Auch für die Charakterkomik gilt zweifellos die Einschränkung des <lb n="ple_229.022"/> Aristoteles: die komische Wirkung tritt nur da ein, wo uns der Gedanke <lb n="ple_229.023"/> an Schädliches oder Gefährliches fern liegt. Erscheint daher die hervorstechende <lb n="ple_229.024"/> Eigenschaft in ihrer Übertreibung für den Träger selbst oder für <lb n="ple_229.025"/> seine Umgebung gefährlich, ist der Selbstwiderspruch, in den ein Charakter <lb n="ple_229.026"/> sich verwickelt, für sein inneres oder äußeres Leben verderblich, so <lb n="ple_229.027"/> schlägt die Komik in Ernst um, und unser Spott verwandelt sich in <lb n="ple_229.028"/> Furcht oder Mitleid. Dies aber kann sehr wohl durch eine bloße Steigerung <lb n="ple_229.029"/> derselben Eigenschaft geschehen, über die wir vorher gelacht haben. <lb n="ple_229.030"/> Hierauf beruht die Möglichkeit der <hi rendition="#g">Tragikomik,</hi> einer dem Grotesken <lb n="ple_229.031"/> verwandten Mischgattung der Poesie, durch die jene widersprechenden <lb n="ple_229.032"/> Empfindungen abwechselnd oder auch zugleich erregt werden. Molières <lb n="ple_229.033"/> beste Lustspiele, besonders der Misanthrop und der Geizhals, wirken, auf <lb n="ple_229.034"/> uns Heutige wenigstens, in dieser Weise. Auch Shakespeares Shylock <lb n="ple_229.035"/> gehört hierher, und nicht weniges von Ibsen, besonders die Wildente und <lb n="ple_229.036"/> eine Anzahl von Episoden seiner späteren Dramen. Freilich, das unausgeglichene <lb n="ple_229.037"/> Nebeneinander solcher Wirkungen steht in künstlerischer <lb n="ple_229.038"/> Hinsicht weit unter der wirklichen Verschmelzung ernster und komischer <lb n="ple_229.039"/> Wirkungen im Humor, wovon im folgenden Abschnitt zu reden sein <lb n="ple_229.040"/> wird. —</p> <p><lb n="ple_229.041"/> Drei Gruppen komischer Wirkungen sind uns in den obigen Betrachtungen <lb n="ple_229.042"/> entgegengetreten, jede von ihnen durch einen gemeinsamen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [229/0243]
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wie denn überhaupt das ganze moralisierende Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts ple_229.002
diese Methode befolgt. Wenn aber die Gestaltung feiner und ple_229.003
innerlicher wird, so treten neben dem komischen Hauptzug auch die übrigen ple_229.004
Charaktereigenschaften anschaulich hervor, und wir gewinnen auf diese Weise ple_229.005
das Gesamtbild eines lebendigen Menschen, den wir verstehen, ja mit dem ple_229.006
wir vielleicht sympathisieren, während wir zugleich über ihn lachen. Die ple_229.007
komische Wirkung beruht dann darauf, daß sich das innere Wesen entweder ple_229.008
in einer extremen und barocken Weise äußert oder in einem Selbstwiderspruch ple_229.009
zutage tritt. Das wird vor allem bei Dickens in einer Reihe ple_229.010
von Gestalten anschaulich: Herr Pickwick, Herr und Frau Micawber, ple_229.011
Betsey Trotwood u. a. Auch Fritz Reuter hat besonders in der Stromtid ple_229.012
ähnliches erreicht. Auf dieser höchsten Stufe der Charakterkomik tritt ple_229.013
dann nicht selten das erwähnte primitive Mittel wieder auf, die einseitige ple_229.014
Hervorhebung einzelner Züge der Erscheinung, einzelner Gewohnheiten ple_229.015
und Redewendungen. Aber es ist hier nur Mittel zur Charakteristik, zur ple_229.016
Veranschaulichung der lebendigen Erscheinung, und geht nicht darauf ple_229.017
aus, unmittelbar Gelächter zu erregen, wie in der Posse. Dickens weiß ple_229.018
solche äußerliche Züge mit vollendeter Meisterschaft zu schildern und zu ple_229.019
benutzen; wir haben einige Beispiele davon schon oben (S. 88) herangezogen. ple_229.020
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Auch für die Charakterkomik gilt zweifellos die Einschränkung des ple_229.022
Aristoteles: die komische Wirkung tritt nur da ein, wo uns der Gedanke ple_229.023
an Schädliches oder Gefährliches fern liegt. Erscheint daher die hervorstechende ple_229.024
Eigenschaft in ihrer Übertreibung für den Träger selbst oder für ple_229.025
seine Umgebung gefährlich, ist der Selbstwiderspruch, in den ein Charakter ple_229.026
sich verwickelt, für sein inneres oder äußeres Leben verderblich, so ple_229.027
schlägt die Komik in Ernst um, und unser Spott verwandelt sich in ple_229.028
Furcht oder Mitleid. Dies aber kann sehr wohl durch eine bloße Steigerung ple_229.029
derselben Eigenschaft geschehen, über die wir vorher gelacht haben. ple_229.030
Hierauf beruht die Möglichkeit der Tragikomik, einer dem Grotesken ple_229.031
verwandten Mischgattung der Poesie, durch die jene widersprechenden ple_229.032
Empfindungen abwechselnd oder auch zugleich erregt werden. Molières ple_229.033
beste Lustspiele, besonders der Misanthrop und der Geizhals, wirken, auf ple_229.034
uns Heutige wenigstens, in dieser Weise. Auch Shakespeares Shylock ple_229.035
gehört hierher, und nicht weniges von Ibsen, besonders die Wildente und ple_229.036
eine Anzahl von Episoden seiner späteren Dramen. Freilich, das unausgeglichene ple_229.037
Nebeneinander solcher Wirkungen steht in künstlerischer ple_229.038
Hinsicht weit unter der wirklichen Verschmelzung ernster und komischer ple_229.039
Wirkungen im Humor, wovon im folgenden Abschnitt zu reden sein ple_229.040
wird. —
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Drei Gruppen komischer Wirkungen sind uns in den obigen Betrachtungen ple_229.042
entgegengetreten, jede von ihnen durch einen gemeinsamen
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