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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Schon die Möglichkeit dieses Spiels zeigt, daß es einseitig ist, wenn ple_227.002
man die komische Wirkung immer nur aus dem Umschlagen des Großen ple_227.003
ins Kleine ableiten will, nicht auch umgekehrt aus dem Sprung vom ple_227.004
Kleinen ins Große. Richtig ist, daß der erstere Weg der gewöhnlichere ple_227.005
ist, allein der Grund ist zunächst nur der, daß das Bedeutende und Eindrucksvolle ple_227.006
in vielen Fällen Affekte hervorruft, welche die erheiternde ple_227.007
Wirkung stören oder aufheben: es erregt Furcht oder doch Respekt. ple_227.008
Wo das nicht der Fall ist, wirkt der Wandel vom Kleinen ins Große nicht ple_227.009
minder komisch wie der umgekehrte. In dieser Tatsache liegt die einzige ple_227.010
Erklärung für eine Reihe komischer Wirkungen, besonders auf künstlerischem ple_227.011
Gebiet.

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In einem der bekanntesten Lieder der Edda fährt der bärtige Schlachtengott ple_227.013
Thor als Jungfrau verkleidet zu dem Riesen Thrym, der die Göttin ple_227.014
Freya zur Braut begehrt, um durch diese List seinen Hammer wieder zu ple_227.015
erlangen, den der Riese geraubt hat. Das Brautmahl wird geschildert: ple_227.016
"Thor aß einen Ochsen, er aß acht Lachse" und entlockt dem glücklichen ple_227.017
Bräutigam den verwunderten Ausruf: "Nie sah ich je Bräute so viel Braten ple_227.018
schlingen, nie mehr des Mets ein Mädchen trinken." Diese Komik der ple_227.019
Übertreibung ins übermäßig Große ist es recht eigentlich, die wir als ple_227.020
grotesk bezeichnen. Auf ihr beruht Rabelais' Gargantua und die deutsche ple_227.021
Nachbildung Fischarts; nicht minder die Schilderung der Riesen in Gullivers ple_227.022
Reisen und in Chamissos Riesenspielzeug.

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Nicht ganz so einfach und durchsichtig wie bei den zuerst behandelten ple_227.024
beiden Klassen des Komischen (des Wort- und Gedankenwitzes und der ple_227.025
Situationskomik) ist es, dem psychologischen Ursprung der zuletzt geschilderten ple_227.026
Wirkungen nachzugehen. Allein es ist verständlich, daß das ple_227.027
plötzliche Nachlassen angespannter Geisteskräfte, der Wandel einer Disposition, ple_227.028
die auf schwere oder gar peinliche Eindrücke gefaßt war, zu einer ple_227.029
heiteren Gleichmütigkeit lustvoll empfunden wird. Daher wird denn auch ple_227.030
die absichtliche Rückkehr aus der zweiten Stimmung in die erste, der ple_227.031
Wechsel zwischen Spannung und Lösung, zu einem erheiternden Spiel, ple_227.032
denn er weckt das Gefühl latenter und überschüssiger Geisteskräfte. Und ple_227.033
daher erklärt sich endlich auch die Wirkung des Grotesken und der Übertreibung. ple_227.034
Der Vergleich mit dem richtigen Vorbild, das Bewußtsein, jeden ple_227.035
Augenblick zum Normalen zurückkehren zu können, nimmt dem Übermaß ple_227.036
alles Bedrückende und verwandelt das Ganze in ein freies Spiel der ple_227.037
Vorstellungen.

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Das Groteske kann freilich auch bis an die Grenze des Grauenhaften ple_227.039
führen: wo uns nicht nur eine äußerliche Übertreibung ins Große, sondern ple_227.040
eine Steigerung ins Dämonische entgegentritt, da entstehen Wirkungen, ple_227.041
die aus Lachlust und Grauen gemischt sind und in denen bald das eine, ple_227.042
bald das andere Element die Oberhand behält. Wenn der Riese in der ple_227.043
Thrymskvidha der vermeintlichen Braut "kußlüstern" naht, so flammen Thors

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Schon die Möglichkeit dieses Spiels zeigt, daß es einseitig ist, wenn ple_227.002
man die komische Wirkung immer nur aus dem Umschlagen des Großen ple_227.003
ins Kleine ableiten will, nicht auch umgekehrt aus dem Sprung vom ple_227.004
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Gebiet.

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Freya zur Braut begehrt, um durch diese List seinen Hammer wieder zu ple_227.015
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Übertreibung ins übermäßig Große ist es recht eigentlich, die wir als ple_227.020
grotesk bezeichnen. Auf ihr beruht Rabelais' Gargantua und die deutsche ple_227.021
Nachbildung Fischarts; nicht minder die Schilderung der Riesen in Gullivers ple_227.022
Reisen und in Chamissos Riesenspielzeug.

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Nicht ganz so einfach und durchsichtig wie bei den zuerst behandelten ple_227.024
beiden Klassen des Komischen (des Wort- und Gedankenwitzes und der ple_227.025
Situationskomik) ist es, dem psychologischen Ursprung der zuletzt geschilderten ple_227.026
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Wechsel zwischen Spannung und Lösung, zu einem erheiternden Spiel, ple_227.032
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Der Vergleich mit dem richtigen Vorbild, das Bewußtsein, jeden ple_227.035
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alles Bedrückende und verwandelt das Ganze in ein freies Spiel der ple_227.037
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Das Groteske kann freilich auch bis an die Grenze des Grauenhaften ple_227.039
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eine Steigerung ins Dämonische entgegentritt, da entstehen Wirkungen, ple_227.041
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[227/0241] ple_227.001 Schon die Möglichkeit dieses Spiels zeigt, daß es einseitig ist, wenn ple_227.002 man die komische Wirkung immer nur aus dem Umschlagen des Großen ple_227.003 ins Kleine ableiten will, nicht auch umgekehrt aus dem Sprung vom ple_227.004 Kleinen ins Große. Richtig ist, daß der erstere Weg der gewöhnlichere ple_227.005 ist, allein der Grund ist zunächst nur der, daß das Bedeutende und Eindrucksvolle ple_227.006 in vielen Fällen Affekte hervorruft, welche die erheiternde ple_227.007 Wirkung stören oder aufheben: es erregt Furcht oder doch Respekt. ple_227.008 Wo das nicht der Fall ist, wirkt der Wandel vom Kleinen ins Große nicht ple_227.009 minder komisch wie der umgekehrte. In dieser Tatsache liegt die einzige ple_227.010 Erklärung für eine Reihe komischer Wirkungen, besonders auf künstlerischem ple_227.011 Gebiet. ple_227.012 In einem der bekanntesten Lieder der Edda fährt der bärtige Schlachtengott ple_227.013 Thor als Jungfrau verkleidet zu dem Riesen Thrym, der die Göttin ple_227.014 Freya zur Braut begehrt, um durch diese List seinen Hammer wieder zu ple_227.015 erlangen, den der Riese geraubt hat. Das Brautmahl wird geschildert: ple_227.016 „Thor aß einen Ochsen, er aß acht Lachse“ und entlockt dem glücklichen ple_227.017 Bräutigam den verwunderten Ausruf: „Nie sah ich je Bräute so viel Braten ple_227.018 schlingen, nie mehr des Mets ein Mädchen trinken.“ Diese Komik der ple_227.019 Übertreibung ins übermäßig Große ist es recht eigentlich, die wir als ple_227.020 grotesk bezeichnen. Auf ihr beruht Rabelais' Gargantua und die deutsche ple_227.021 Nachbildung Fischarts; nicht minder die Schilderung der Riesen in Gullivers ple_227.022 Reisen und in Chamissos Riesenspielzeug. ple_227.023 Nicht ganz so einfach und durchsichtig wie bei den zuerst behandelten ple_227.024 beiden Klassen des Komischen (des Wort- und Gedankenwitzes und der ple_227.025 Situationskomik) ist es, dem psychologischen Ursprung der zuletzt geschilderten ple_227.026 Wirkungen nachzugehen. Allein es ist verständlich, daß das ple_227.027 plötzliche Nachlassen angespannter Geisteskräfte, der Wandel einer Disposition, ple_227.028 die auf schwere oder gar peinliche Eindrücke gefaßt war, zu einer ple_227.029 heiteren Gleichmütigkeit lustvoll empfunden wird. Daher wird denn auch ple_227.030 die absichtliche Rückkehr aus der zweiten Stimmung in die erste, der ple_227.031 Wechsel zwischen Spannung und Lösung, zu einem erheiternden Spiel, ple_227.032 denn er weckt das Gefühl latenter und überschüssiger Geisteskräfte. Und ple_227.033 daher erklärt sich endlich auch die Wirkung des Grotesken und der Übertreibung. ple_227.034 Der Vergleich mit dem richtigen Vorbild, das Bewußtsein, jeden ple_227.035 Augenblick zum Normalen zurückkehren zu können, nimmt dem Übermaß ple_227.036 alles Bedrückende und verwandelt das Ganze in ein freies Spiel der ple_227.037 Vorstellungen. ple_227.038 Das Groteske kann freilich auch bis an die Grenze des Grauenhaften ple_227.039 führen: wo uns nicht nur eine äußerliche Übertreibung ins Große, sondern ple_227.040 eine Steigerung ins Dämonische entgegentritt, da entstehen Wirkungen, ple_227.041 die aus Lachlust und Grauen gemischt sind und in denen bald das eine, ple_227.042 bald das andere Element die Oberhand behält. Wenn der Riese in der ple_227.043 Thrymskvidha der vermeintlichen Braut „kußlüstern“ naht, so flammen Thors

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/241>, abgerufen am 23.11.2024.