Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_220.001 ple_220.015 ple_220.001 ple_220.015 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0234" n="220"/><lb n="ple_220.001"/> ging, in welcher Ausdehnung sie von diesem Mittel Gebrauch machte, <lb n="ple_220.002"/> und wie sicheren Erfolg sich die Dichter davon versprachen, davon zeugt <lb n="ple_220.003"/> fast jede Seite des Aristophanes. In den Eingangsworten der Frösche gibt <lb n="ple_220.004"/> er ein kleines Register von „Witzen“ dieser Art, „wie sie das Publikum <lb n="ple_220.005"/> allezeit belacht“, aber der große Komiker, der hier über seine Konkurrenten <lb n="ple_220.006"/> und seine Zuschauer spottet, hat es tatsächlich niemals verschmäht, auf die <lb n="ple_220.007"/> gleiche Weise die Lacher auf seine Seite zu bringen. Wer nun südliche <lb n="ple_220.008"/> Völker kennt, weiß, daß nicht etwa die Durchbrechung des gesellschaftlichen <lb n="ple_220.009"/> Anstands und der Konvention die komische Wirkung erzielt, — das <lb n="ple_220.010"/> „Naturalia non sunt turpia“ galt und gilt dort heute noch für das Volksleben <lb n="ple_220.011"/> nicht weniger als für die Volksbühne. Die erheiternde Wirkung kann <lb n="ple_220.012"/> also wiederum nur durch Lustgefühle niederer Ordnung hervorgebracht <lb n="ple_220.013"/> sein, die sich an die Vorstellung der animalischen Funktionen knüpfen und <lb n="ple_220.014"/> sich im Kampfe mit dem Widrigen und Ekelhaften behaupten.</p> <p><lb n="ple_220.015"/> Gesteigert wird nun jedes Lustgefühl, wenn es unerwartet hervorgerufen <lb n="ple_220.016"/> wird, also da, wo die sexuellen und ihnen verwandten Bilder plötzlich <lb n="ple_220.017"/> und überraschend erweckt werden. Dies geschieht am einfachsten in <lb n="ple_220.018"/> doppelsinnigen Worten und Wendungen, in der <hi rendition="#g">Zweideutigkeit.</hi> Der <lb n="ple_220.019"/> ungebildete Mensch ist im allgemeinen für eine andere Art des Wortwitzes <lb n="ple_220.020"/> gar nicht empfänglich; aber auch in dem, was sich die Herrengesellschaft <lb n="ple_220.021"/> der höheren Klassen zur Belustigung erzählt, nehmen die Zoten an Zahl <lb n="ple_220.022"/> wie dem Interesse nach, das sie erregen, den ersten Platz ein. Und ein <lb n="ple_220.023"/> Blick über die komische Literatur von Aristophanes bis auf Voltaire und <lb n="ple_220.024"/> Heine zeigt uns das gleiche Bild. Aber freilich, es ist in der entwickelteren <lb n="ple_220.025"/> Kultur der modernen Gesellschaft nicht mehr die bloße primitive Freude <lb n="ple_220.026"/> am Geschlechtlichen, was der Zweideutigkeit ihren Reiz verleiht; vielmehr <lb n="ple_220.027"/> kommt hier wesentlich in Betracht, daß die sexuellen Vorgänge so gut wie <lb n="ple_220.028"/> die ihnen verwandten animalischen Funktionen als unanständig aus dem <lb n="ple_220.029"/> Gesprächskreise, in dem die gute Gesellschaft sich bewegt, verbannt sind: <lb n="ple_220.030"/> aus dem Vorstellungsbereich der Menschen aber können sie gleichwohl nicht <lb n="ple_220.031"/> verbannt werden, und so tauchen sie denn naturgemäß in Gespräch und <lb n="ple_220.032"/> Umgang immer wieder auf, aber verhüllt und gleichsam vermummt, zum <lb n="ple_220.033"/> Vergnügen der Hörer. Indessen dieses Vergnügen wird nun nicht mehr bloß <lb n="ple_220.034"/> durch den verhüllten Gegenstand erregt, sondern die Hülle selbst, die ihn <lb n="ple_220.035"/> verdeckt und zugleich durchscheinen läßt, belustigt. Und je zierlicher sie <lb n="ple_220.036"/> gestaltet ist, je artiger der Doppelsinn sich gibt, desto mehr mischt sich <lb n="ple_220.037"/> Freude am Spiel, also ein höheres ästhetisches Element, in die bloße <lb n="ple_220.038"/> sexuelle Lustempfindung; zuletzt bleibt der sinnliche Untergrund nur noch <lb n="ple_220.039"/> der Träger eines wesentlich ästhetischen Vergnügens. Die französische <lb n="ple_220.040"/> Literatur im achtzehnten Jahrhundert, ebenso auch Heines ihr geistverwandte <lb n="ple_220.041"/> Schriften zeigen den Übergang deutlich: ihre Zweideutigkeiten sind fast <lb n="ple_220.042"/> durchweg feiner und witziger als das, was das Altertum in dieser Hinsicht <lb n="ple_220.043"/> hervorgebracht hat. Selbst unseres biedern Uhlands Ballade „Graf Eberstein“ </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [220/0234]
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ging, in welcher Ausdehnung sie von diesem Mittel Gebrauch machte, ple_220.002
und wie sicheren Erfolg sich die Dichter davon versprachen, davon zeugt ple_220.003
fast jede Seite des Aristophanes. In den Eingangsworten der Frösche gibt ple_220.004
er ein kleines Register von „Witzen“ dieser Art, „wie sie das Publikum ple_220.005
allezeit belacht“, aber der große Komiker, der hier über seine Konkurrenten ple_220.006
und seine Zuschauer spottet, hat es tatsächlich niemals verschmäht, auf die ple_220.007
gleiche Weise die Lacher auf seine Seite zu bringen. Wer nun südliche ple_220.008
Völker kennt, weiß, daß nicht etwa die Durchbrechung des gesellschaftlichen ple_220.009
Anstands und der Konvention die komische Wirkung erzielt, — das ple_220.010
„Naturalia non sunt turpia“ galt und gilt dort heute noch für das Volksleben ple_220.011
nicht weniger als für die Volksbühne. Die erheiternde Wirkung kann ple_220.012
also wiederum nur durch Lustgefühle niederer Ordnung hervorgebracht ple_220.013
sein, die sich an die Vorstellung der animalischen Funktionen knüpfen und ple_220.014
sich im Kampfe mit dem Widrigen und Ekelhaften behaupten.
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Gesteigert wird nun jedes Lustgefühl, wenn es unerwartet hervorgerufen ple_220.016
wird, also da, wo die sexuellen und ihnen verwandten Bilder plötzlich ple_220.017
und überraschend erweckt werden. Dies geschieht am einfachsten in ple_220.018
doppelsinnigen Worten und Wendungen, in der Zweideutigkeit. Der ple_220.019
ungebildete Mensch ist im allgemeinen für eine andere Art des Wortwitzes ple_220.020
gar nicht empfänglich; aber auch in dem, was sich die Herrengesellschaft ple_220.021
der höheren Klassen zur Belustigung erzählt, nehmen die Zoten an Zahl ple_220.022
wie dem Interesse nach, das sie erregen, den ersten Platz ein. Und ein ple_220.023
Blick über die komische Literatur von Aristophanes bis auf Voltaire und ple_220.024
Heine zeigt uns das gleiche Bild. Aber freilich, es ist in der entwickelteren ple_220.025
Kultur der modernen Gesellschaft nicht mehr die bloße primitive Freude ple_220.026
am Geschlechtlichen, was der Zweideutigkeit ihren Reiz verleiht; vielmehr ple_220.027
kommt hier wesentlich in Betracht, daß die sexuellen Vorgänge so gut wie ple_220.028
die ihnen verwandten animalischen Funktionen als unanständig aus dem ple_220.029
Gesprächskreise, in dem die gute Gesellschaft sich bewegt, verbannt sind: ple_220.030
aus dem Vorstellungsbereich der Menschen aber können sie gleichwohl nicht ple_220.031
verbannt werden, und so tauchen sie denn naturgemäß in Gespräch und ple_220.032
Umgang immer wieder auf, aber verhüllt und gleichsam vermummt, zum ple_220.033
Vergnügen der Hörer. Indessen dieses Vergnügen wird nun nicht mehr bloß ple_220.034
durch den verhüllten Gegenstand erregt, sondern die Hülle selbst, die ihn ple_220.035
verdeckt und zugleich durchscheinen läßt, belustigt. Und je zierlicher sie ple_220.036
gestaltet ist, je artiger der Doppelsinn sich gibt, desto mehr mischt sich ple_220.037
Freude am Spiel, also ein höheres ästhetisches Element, in die bloße ple_220.038
sexuelle Lustempfindung; zuletzt bleibt der sinnliche Untergrund nur noch ple_220.039
der Träger eines wesentlich ästhetischen Vergnügens. Die französische ple_220.040
Literatur im achtzehnten Jahrhundert, ebenso auch Heines ihr geistverwandte ple_220.041
Schriften zeigen den Übergang deutlich: ihre Zweideutigkeiten sind fast ple_220.042
durchweg feiner und witziger als das, was das Altertum in dieser Hinsicht ple_220.043
hervorgebracht hat. Selbst unseres biedern Uhlands Ballade „Graf Eberstein“
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