Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_202.001 ple_202.009 ple_202.001 ple_202.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0216" n="202"/><lb n="ple_202.001"/> und Schiller in ihrer klassischen Epoche auffaßten, läßt das ästhetisch Häßliche <lb n="ple_202.002"/> schlechterdings nicht zu. Nur große und edle Gegenstände werden <lb n="ple_202.003"/> in edlen und schönen Formen behandelt; alles was auf widrige Vorstellungen <lb n="ple_202.004"/> führen kann, wird verworfen oder doch gemildert. So etwa die <lb n="ple_202.005"/> Verbrennung Jeanne d'Arcs, so alles, was die Anschauung von Krankheit <lb n="ple_202.006"/> und körperlichen Schmerzen hervorruft. <lb n="ple_202.007"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>„Keine Träne fließt hier mehr dem Leiden,</l><lb n="ple_202.008"/><l>Nur des Geistes tapfrer Gegenwehr.“</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_202.009"/> Der konsequente Naturalismus dagegen, dem es nur auf die Wahrheit, <lb n="ple_202.010"/> nicht auf die Schönheit der Darstellung ankommt, will die Wirklichkeit in <lb n="ple_202.011"/> ihrem ganzen Charakter und mit all ihren Zügen wiedergeben: Milderung <lb n="ple_202.012"/> erscheint ihm als Fälschung, Vermeidung des Abstoßenden als Schönfärberei. <lb n="ple_202.013"/> Zwar ist der Unterschied in der dichterischen Praxis kein so durchgreifender <lb n="ple_202.014"/> und entschiedener, wie man es gewöhnlich glaubt und wie es auf dem Gebiete <lb n="ple_202.015"/> der bildenden Künste wohl auch tatsächlich der Fall ist. Es gibt Dichtungen, <lb n="ple_202.016"/> die unzweifelhaft dem hohen Stil angehören und gleichwohl vor <lb n="ple_202.017"/> einer realistischen Schilderung des Abstoßenden nicht zurückschrecken: so <lb n="ple_202.018"/> der Philoktet, so auch der Schluß des König Ödipus, wo der Held geblendet <lb n="ple_202.019"/> erscheint. Die Blendung Glosters bei Shakespeare mutet fast naturalistisch <lb n="ple_202.020"/> an, zumal wenn man die Behandlung des ähnlichen Motivs in desselben <lb n="ple_202.021"/> Dichters König Johann dagegen hält; und doch ist der König Lear eines <lb n="ple_202.022"/> von denjenigen seiner Dramen, in denen der Idealstil am entschiedensten <lb n="ple_202.023"/> herrscht. Andrerseits vermag auch der naturalistische Dichter das ästhetisch <lb n="ple_202.024"/> Häßliche zu vermeiden, wenn er seine Stoffe und sein Milieu dementsprechend <lb n="ple_202.025"/> wählt, so wie es Ibsen in den meisten seiner Dramen, mit Ausnahme <lb n="ple_202.026"/> etwa der Gespenster und des Klein Eyolf, getan hat. Seine Handlungen <lb n="ple_202.027"/> spielen sich durchweg zwischen Menschen ab, die auf einer gewissen Höhe <lb n="ple_202.028"/> der Kultur stehen, wenn nicht der moralischen, so doch der ästhetischen, <lb n="ple_202.029"/> und das Abstoßende drängt sich hier nicht wie in der Schilderung der <lb n="ple_202.030"/> unteren Schichten der Gesellschaft unabweisbar auf. Immerhin bleibt im <lb n="ple_202.031"/> ganzen auch in der Praxis ein deutlicher Unterschied. Er trifft vielleicht <lb n="ple_202.032"/> weniger das Häßliche an sich als das Niedrige, d. h. das kleinlich Häßliche: <lb n="ple_202.033"/> also etwa die niederen oder abstoßenden Seiten des körperlichen Lebens. <lb n="ple_202.034"/> Es bezeichnet den extremsten Naturalismus, wenn der Reitersknecht in <lb n="ple_202.035"/> Goethes Götz erzählt: „Ich hab um Urlaub gebeten, meine Notdurft zu <lb n="ple_202.036"/> verrichten“, oder wenn Carlos im Clavigo sagt: „Ihr Verliebten habt keine <lb n="ple_202.037"/> Augen, keine Nasen.“ Kein moderner Naturalist hat mehr gewagt. Und <lb n="ple_202.038"/> in der Tat wird man sagen dürfen, daß ein kultivierter Kunstgeschmack <lb n="ple_202.039"/> sich durch solche Wendungen notwendigerweise abgestoßen fühlt, da <lb n="ple_202.040"/> wenigstens, wo sie in der ernsten oder tragischen Dichtung auftreten. <lb n="ple_202.041"/> Anders freilich verhält es sich in der komischen Poesie. Hier erscheint <lb n="ple_202.042"/> in der Tat die Grenze sehr weit, die dem Dichter und seiner Wirkung gezogen <lb n="ple_202.043"/> ist, und in Romanen wie der Don Quichote oder Rabelais' Gargantua, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [202/0216]
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und Schiller in ihrer klassischen Epoche auffaßten, läßt das ästhetisch Häßliche ple_202.002
schlechterdings nicht zu. Nur große und edle Gegenstände werden ple_202.003
in edlen und schönen Formen behandelt; alles was auf widrige Vorstellungen ple_202.004
führen kann, wird verworfen oder doch gemildert. So etwa die ple_202.005
Verbrennung Jeanne d'Arcs, so alles, was die Anschauung von Krankheit ple_202.006
und körperlichen Schmerzen hervorruft. ple_202.007
„Keine Träne fließt hier mehr dem Leiden, ple_202.008
Nur des Geistes tapfrer Gegenwehr.“
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Der konsequente Naturalismus dagegen, dem es nur auf die Wahrheit, ple_202.010
nicht auf die Schönheit der Darstellung ankommt, will die Wirklichkeit in ple_202.011
ihrem ganzen Charakter und mit all ihren Zügen wiedergeben: Milderung ple_202.012
erscheint ihm als Fälschung, Vermeidung des Abstoßenden als Schönfärberei. ple_202.013
Zwar ist der Unterschied in der dichterischen Praxis kein so durchgreifender ple_202.014
und entschiedener, wie man es gewöhnlich glaubt und wie es auf dem Gebiete ple_202.015
der bildenden Künste wohl auch tatsächlich der Fall ist. Es gibt Dichtungen, ple_202.016
die unzweifelhaft dem hohen Stil angehören und gleichwohl vor ple_202.017
einer realistischen Schilderung des Abstoßenden nicht zurückschrecken: so ple_202.018
der Philoktet, so auch der Schluß des König Ödipus, wo der Held geblendet ple_202.019
erscheint. Die Blendung Glosters bei Shakespeare mutet fast naturalistisch ple_202.020
an, zumal wenn man die Behandlung des ähnlichen Motivs in desselben ple_202.021
Dichters König Johann dagegen hält; und doch ist der König Lear eines ple_202.022
von denjenigen seiner Dramen, in denen der Idealstil am entschiedensten ple_202.023
herrscht. Andrerseits vermag auch der naturalistische Dichter das ästhetisch ple_202.024
Häßliche zu vermeiden, wenn er seine Stoffe und sein Milieu dementsprechend ple_202.025
wählt, so wie es Ibsen in den meisten seiner Dramen, mit Ausnahme ple_202.026
etwa der Gespenster und des Klein Eyolf, getan hat. Seine Handlungen ple_202.027
spielen sich durchweg zwischen Menschen ab, die auf einer gewissen Höhe ple_202.028
der Kultur stehen, wenn nicht der moralischen, so doch der ästhetischen, ple_202.029
und das Abstoßende drängt sich hier nicht wie in der Schilderung der ple_202.030
unteren Schichten der Gesellschaft unabweisbar auf. Immerhin bleibt im ple_202.031
ganzen auch in der Praxis ein deutlicher Unterschied. Er trifft vielleicht ple_202.032
weniger das Häßliche an sich als das Niedrige, d. h. das kleinlich Häßliche: ple_202.033
also etwa die niederen oder abstoßenden Seiten des körperlichen Lebens. ple_202.034
Es bezeichnet den extremsten Naturalismus, wenn der Reitersknecht in ple_202.035
Goethes Götz erzählt: „Ich hab um Urlaub gebeten, meine Notdurft zu ple_202.036
verrichten“, oder wenn Carlos im Clavigo sagt: „Ihr Verliebten habt keine ple_202.037
Augen, keine Nasen.“ Kein moderner Naturalist hat mehr gewagt. Und ple_202.038
in der Tat wird man sagen dürfen, daß ein kultivierter Kunstgeschmack ple_202.039
sich durch solche Wendungen notwendigerweise abgestoßen fühlt, da ple_202.040
wenigstens, wo sie in der ernsten oder tragischen Dichtung auftreten. ple_202.041
Anders freilich verhält es sich in der komischen Poesie. Hier erscheint ple_202.042
in der Tat die Grenze sehr weit, die dem Dichter und seiner Wirkung gezogen ple_202.043
ist, und in Romanen wie der Don Quichote oder Rabelais' Gargantua,
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