Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_199.001 ple_199.005 ple_199.029 ple_199.001 ple_199.005 ple_199.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0213" n="199"/><lb n="ple_199.001"/> metrischen Form überhaupt nicht vereinbar. Wo die letztere auftritt, ist <lb n="ple_199.002"/> der erstere mindestens zu einem Realismus gemildert, der das Extrem vermeidet, <lb n="ple_199.003"/> wie z. B. in Kleists zerbrochenem Krug und noch mehr in Wallensteins <lb n="ple_199.004"/> Lager.</p> <p><lb n="ple_199.005"/> Das eigentlich entscheidende Kennzeichen aber für den Stilunterschied <lb n="ple_199.006"/> bildet die Sprachbehandlung, daher ja auch der Ausdruck <hi rendition="#g">Stil</hi> dem <lb n="ple_199.007"/> Gebiete der Sprache entlehnt ist und oft auf ihn eingeschränkt wird. <lb n="ple_199.008"/> Der Naturalismus ahmt die Sprache des Lebens unmittelbar nach. Er <lb n="ple_199.009"/> vermeidet Vulgarismen nicht, er sucht sie vielmehr, soweit sie ihm charakteristisch <lb n="ple_199.010"/> erscheinen. Schillers Kabale und Liebe ist eine Fundgrube <lb n="ple_199.011"/> derb volkstümlicher, zum Teil vulgärer Redewendungen; das Argot des <lb n="ple_199.012"/> niederen Bürgertums, verderbte Fremdwörter u. dgl. werden auch an den <lb n="ple_199.013"/> tragischen Stellen nicht vermieden. Durch die modernen Neuerer, wie <lb n="ple_199.014"/> Zola und Gerhart Hauptmann, wird das freilich noch sehr viel mehr ins <lb n="ple_199.015"/> Extrem geführt. Eine besondere Neigung hat der Naturalismus begreiflicherweise <lb n="ple_199.016"/> zur Mundart. Das Eindringen fränkischer Formen und Frankfurter <lb n="ple_199.017"/> Wendungen kennzeichnet nicht minder wie die angewandte Prosa die neue <lb n="ple_199.018"/> Stilrichtung im Götz gegenüber Goethes Leipziger Lustspielen. Ja, in der <lb n="ple_199.019"/> eigentlich mundartlichen Dichtung findet der Naturalismus oft seine natürlichste <lb n="ple_199.020"/> Form; daher denn auch Werke, wie Anzengrubers Bauernkomödien <lb n="ple_199.021"/> und Romane, wie Gerhart Hauptmanns Weber den Höhepunkt des modernen <lb n="ple_199.022"/> deutschen Naturalismus bezeichnen. Dem gegenüber strebt der Idealstil <lb n="ple_199.023"/> eine durchweg erhöhte Sprachbehandlung an; er vermeidet nicht nur gemeine, <lb n="ple_199.024"/> sondern für gewöhnlich auch volkstümliche Ausdrücke überhaupt. <lb n="ple_199.025"/> Ein logisch durchbildeter Satzbau, edle und erhabene Bilder, eine kunstvolle <lb n="ple_199.026"/> und getragene Redeweise ersetzen ihm die Sprache des Lebens. Und das <lb n="ple_199.027"/> eigentümliche Geheimnis des echten Dichters ist es, nicht unnatürlich zu <lb n="ple_199.028"/> werden, indem er sich von der Natur entfernt.</p> <p><lb n="ple_199.029"/> In der Natur der Lyrik, wie wir sie im elften Abschnitt kennen gelernt <lb n="ple_199.030"/> haben, liegt es, daß sie auf einen mehr oder weniger ausgesprochenen <lb n="ple_199.031"/> Idealstil angewiesen ist und sich dem Naturalismus verschließen muß. Eine <lb n="ple_199.032"/> naturalistische Wiedergabe reiner Gefühls- und Stimmungszustände in Worten <lb n="ple_199.033"/> ist eine Unmöglichkeit; denn das Gefühl an sich, das leidenschaftliche <lb n="ple_199.034"/> zumal, versagt sich dem Wort: es stammelt oder schreit, aber es weiß <lb n="ple_199.035"/> nicht zu sprechen. Die bloße Aussprache setzt eine innere Klärung und <lb n="ple_199.036"/> Vergeistigung voraus, und darin besteht schon eine gewisse Erhebung und <lb n="ple_199.037"/> Idealisierung. Dazu kommt, daß, wie gleichfalls schon hervorgehoben, diese <lb n="ple_199.038"/> Aussprache im allgemeinen nur dann interessiert, wenn sie in künstlerischen <lb n="ple_199.039"/> Formen stattfindet: eben deshalb bedarf die Lyrik des Rhythmus und des <lb n="ple_199.040"/> dichterisch schönen Ausdrucks. Selbst eine mundartliche Lyrik, wie die Klaus <lb n="ple_199.041"/> Groths, wird immer nur einen sehr gemilderten realistischen Charakter tragen <lb n="ple_199.042"/> können, und die neueren Versuche einer naturalistischen Lyrik, die wir oben <lb n="ple_199.043"/> (S. 107 f.) kennen gelernt, haben sich uns als völlig verfehlt erwiesen.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [199/0213]
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metrischen Form überhaupt nicht vereinbar. Wo die letztere auftritt, ist ple_199.002
der erstere mindestens zu einem Realismus gemildert, der das Extrem vermeidet, ple_199.003
wie z. B. in Kleists zerbrochenem Krug und noch mehr in Wallensteins ple_199.004
Lager.
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Das eigentlich entscheidende Kennzeichen aber für den Stilunterschied ple_199.006
bildet die Sprachbehandlung, daher ja auch der Ausdruck Stil dem ple_199.007
Gebiete der Sprache entlehnt ist und oft auf ihn eingeschränkt wird. ple_199.008
Der Naturalismus ahmt die Sprache des Lebens unmittelbar nach. Er ple_199.009
vermeidet Vulgarismen nicht, er sucht sie vielmehr, soweit sie ihm charakteristisch ple_199.010
erscheinen. Schillers Kabale und Liebe ist eine Fundgrube ple_199.011
derb volkstümlicher, zum Teil vulgärer Redewendungen; das Argot des ple_199.012
niederen Bürgertums, verderbte Fremdwörter u. dgl. werden auch an den ple_199.013
tragischen Stellen nicht vermieden. Durch die modernen Neuerer, wie ple_199.014
Zola und Gerhart Hauptmann, wird das freilich noch sehr viel mehr ins ple_199.015
Extrem geführt. Eine besondere Neigung hat der Naturalismus begreiflicherweise ple_199.016
zur Mundart. Das Eindringen fränkischer Formen und Frankfurter ple_199.017
Wendungen kennzeichnet nicht minder wie die angewandte Prosa die neue ple_199.018
Stilrichtung im Götz gegenüber Goethes Leipziger Lustspielen. Ja, in der ple_199.019
eigentlich mundartlichen Dichtung findet der Naturalismus oft seine natürlichste ple_199.020
Form; daher denn auch Werke, wie Anzengrubers Bauernkomödien ple_199.021
und Romane, wie Gerhart Hauptmanns Weber den Höhepunkt des modernen ple_199.022
deutschen Naturalismus bezeichnen. Dem gegenüber strebt der Idealstil ple_199.023
eine durchweg erhöhte Sprachbehandlung an; er vermeidet nicht nur gemeine, ple_199.024
sondern für gewöhnlich auch volkstümliche Ausdrücke überhaupt. ple_199.025
Ein logisch durchbildeter Satzbau, edle und erhabene Bilder, eine kunstvolle ple_199.026
und getragene Redeweise ersetzen ihm die Sprache des Lebens. Und das ple_199.027
eigentümliche Geheimnis des echten Dichters ist es, nicht unnatürlich zu ple_199.028
werden, indem er sich von der Natur entfernt.
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In der Natur der Lyrik, wie wir sie im elften Abschnitt kennen gelernt ple_199.030
haben, liegt es, daß sie auf einen mehr oder weniger ausgesprochenen ple_199.031
Idealstil angewiesen ist und sich dem Naturalismus verschließen muß. Eine ple_199.032
naturalistische Wiedergabe reiner Gefühls- und Stimmungszustände in Worten ple_199.033
ist eine Unmöglichkeit; denn das Gefühl an sich, das leidenschaftliche ple_199.034
zumal, versagt sich dem Wort: es stammelt oder schreit, aber es weiß ple_199.035
nicht zu sprechen. Die bloße Aussprache setzt eine innere Klärung und ple_199.036
Vergeistigung voraus, und darin besteht schon eine gewisse Erhebung und ple_199.037
Idealisierung. Dazu kommt, daß, wie gleichfalls schon hervorgehoben, diese ple_199.038
Aussprache im allgemeinen nur dann interessiert, wenn sie in künstlerischen ple_199.039
Formen stattfindet: eben deshalb bedarf die Lyrik des Rhythmus und des ple_199.040
dichterisch schönen Ausdrucks. Selbst eine mundartliche Lyrik, wie die Klaus ple_199.041
Groths, wird immer nur einen sehr gemilderten realistischen Charakter tragen ple_199.042
können, und die neueren Versuche einer naturalistischen Lyrik, die wir oben ple_199.043
(S. 107 f.) kennen gelernt, haben sich uns als völlig verfehlt erwiesen.
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