Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_197.001 ple_197.030 ple_197.001 ple_197.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0211" n="197"/><lb n="ple_197.001"/> ist jene Intimität des Erlebens und Nacherlebens, jene Unmittelbarkeit und <lb n="ple_197.002"/> Fülle des Sehens möglich, aus der eine tiefe dichterische Wirkung auf <lb n="ple_197.003"/> die lebende Generation allein hervorgeht; und nur Stoffe, die in der Gegenwart <lb n="ple_197.004"/> erwachsen oder die frei gestaltet sind, bieten dem Dichter jene Bildsamkeit, <lb n="ple_197.005"/> die er bedarf und die dem Mythos und der Geschichte abhanden <lb n="ple_197.006"/> gekommen ist. Auch früheren Zeiten waren solche Stoffe nicht fremd: das <lb n="ple_197.007"/> Altertum hat im Mimus sowohl wie in der unter seinem Einfluß entwickelten <lb n="ple_197.008"/> nacharistophanischen Komödie Vorgänge und Typen aus dem zeitgenössischen <lb n="ple_197.009"/> Volksleben behandelt und auch den Sitten- oder Milieuroman gekannt, <lb n="ple_197.010"/> wie besonders Petronius beweist. Seit seiner Wiedergeburt im 18. Jahrhundert <lb n="ple_197.011"/> hat der Roman fast stets ins Leben gegriffen, und an seiner Hand <lb n="ple_197.012"/> entdeckte das bürgerliche Drama, das lange neben der mythologischen und <lb n="ple_197.013"/> historischen Dichtung ein kümmerliches Dasein gefristet hatte, allmählich <lb n="ple_197.014"/> die reiche Welt von Stoffen, die auch der tragischen Bühne in nächster <lb n="ple_197.015"/> Nähe erwächst. Hatten die früheren Dramatiker mit Vorliebe sich dem Reiche <lb n="ple_197.016"/> des Mythos oder der Geschichte zugewandt, weil es ihnen mannigfaltiger, <lb n="ple_197.017"/> interessanter und erhabener schien, so fand der erwachende und erstarkende <lb n="ple_197.018"/> Wirklichkeitssinn der Gegenwart nur hier, was er bedarf: die Möglichkeit <lb n="ple_197.019"/> treuer Wiedergabe des äußeren, besonders aber des inneren Lebens. In dieser <lb n="ple_197.020"/> Hinsicht gewährt die Entwicklung Ibsens ein typisches Bild. Nach energischen <lb n="ple_197.021"/> Versuchen, ein Stück Geschichte seelisch zu vertiefen (die Kronprätendenten, <lb n="ple_197.022"/> Kaiser und Galiläer) und einem anderen, in völlig freiem phantastischem <lb n="ple_197.023"/> Bilde die innere Entwicklung eines Seelenlebens zur Klarheit zu bringen <lb n="ple_197.024"/> (Peer Gynt), ergreift der Dichter endgültig das Leben seiner Zeit und seiner <lb n="ple_197.025"/> Heimat mit seinen sozialen und psychologischen Erscheinungen, um hier <lb n="ple_197.026"/> erst zur Meisterschaft zu gelangen, einer Meisterschaft, die sich nicht nach <lb n="ple_197.027"/> außen, sondern nach innen entfaltet, nicht in größerer Ausbreitung, sondern <lb n="ple_197.028"/> in zunehmender Vertiefung kundgibt und aus der Beschränkung auf <lb n="ple_197.029"/> die Wirklichkeit ihre stärksten Wirkungen erzielt.</p> <p><lb n="ple_197.030"/> Die Gegensätzlichkeit in der Wahl der Stoffe hängt — soviel hat uns <lb n="ple_197.031"/> diese Betrachtung gelehrt — mit einer tiefen Verschiedenheit der künstlerischen <lb n="ple_197.032"/> Instinkte und Richtungen zusammen. Eine solche aber wird sich <lb n="ple_197.033"/> auch in der Formgebung und darüber hinaus in der inneren Gestaltung, <lb n="ple_197.034"/> in der Eigenart des Gefühlslebens, mit dem die Dichtungen erfüllt sind, <lb n="ple_197.035"/> kund tun. Diesen weittragenden Besonderheiten der künstlerischen Richtung <lb n="ple_197.036"/> wollen wir uns nunmehr zuwenden.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [197/0211]
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ist jene Intimität des Erlebens und Nacherlebens, jene Unmittelbarkeit und ple_197.002
Fülle des Sehens möglich, aus der eine tiefe dichterische Wirkung auf ple_197.003
die lebende Generation allein hervorgeht; und nur Stoffe, die in der Gegenwart ple_197.004
erwachsen oder die frei gestaltet sind, bieten dem Dichter jene Bildsamkeit, ple_197.005
die er bedarf und die dem Mythos und der Geschichte abhanden ple_197.006
gekommen ist. Auch früheren Zeiten waren solche Stoffe nicht fremd: das ple_197.007
Altertum hat im Mimus sowohl wie in der unter seinem Einfluß entwickelten ple_197.008
nacharistophanischen Komödie Vorgänge und Typen aus dem zeitgenössischen ple_197.009
Volksleben behandelt und auch den Sitten- oder Milieuroman gekannt, ple_197.010
wie besonders Petronius beweist. Seit seiner Wiedergeburt im 18. Jahrhundert ple_197.011
hat der Roman fast stets ins Leben gegriffen, und an seiner Hand ple_197.012
entdeckte das bürgerliche Drama, das lange neben der mythologischen und ple_197.013
historischen Dichtung ein kümmerliches Dasein gefristet hatte, allmählich ple_197.014
die reiche Welt von Stoffen, die auch der tragischen Bühne in nächster ple_197.015
Nähe erwächst. Hatten die früheren Dramatiker mit Vorliebe sich dem Reiche ple_197.016
des Mythos oder der Geschichte zugewandt, weil es ihnen mannigfaltiger, ple_197.017
interessanter und erhabener schien, so fand der erwachende und erstarkende ple_197.018
Wirklichkeitssinn der Gegenwart nur hier, was er bedarf: die Möglichkeit ple_197.019
treuer Wiedergabe des äußeren, besonders aber des inneren Lebens. In dieser ple_197.020
Hinsicht gewährt die Entwicklung Ibsens ein typisches Bild. Nach energischen ple_197.021
Versuchen, ein Stück Geschichte seelisch zu vertiefen (die Kronprätendenten, ple_197.022
Kaiser und Galiläer) und einem anderen, in völlig freiem phantastischem ple_197.023
Bilde die innere Entwicklung eines Seelenlebens zur Klarheit zu bringen ple_197.024
(Peer Gynt), ergreift der Dichter endgültig das Leben seiner Zeit und seiner ple_197.025
Heimat mit seinen sozialen und psychologischen Erscheinungen, um hier ple_197.026
erst zur Meisterschaft zu gelangen, einer Meisterschaft, die sich nicht nach ple_197.027
außen, sondern nach innen entfaltet, nicht in größerer Ausbreitung, sondern ple_197.028
in zunehmender Vertiefung kundgibt und aus der Beschränkung auf ple_197.029
die Wirklichkeit ihre stärksten Wirkungen erzielt.
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Die Gegensätzlichkeit in der Wahl der Stoffe hängt — soviel hat uns ple_197.031
diese Betrachtung gelehrt — mit einer tiefen Verschiedenheit der künstlerischen ple_197.032
Instinkte und Richtungen zusammen. Eine solche aber wird sich ple_197.033
auch in der Formgebung und darüber hinaus in der inneren Gestaltung, ple_197.034
in der Eigenart des Gefühlslebens, mit dem die Dichtungen erfüllt sind, ple_197.035
kund tun. Diesen weittragenden Besonderheiten der künstlerischen Richtung ple_197.036
wollen wir uns nunmehr zuwenden.
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