Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_190.001 ple_190.007 ple_190.016 1) ple_190.041
R. Haym, Romantische Schule S. 648, 692. -- Hierhin gehören auch die geistvollen ple_190.042 Betrachtungen bei Richard Wagner, Oper und Drama. Zweiter Teil (Gesammelte ple_190.043 Schriften und Dichtungen, 4. Band3 S. 31 ff.). ple_190.001 ple_190.007 ple_190.016 1) ple_190.041
R. Haym, Romantische Schule S. 648, 692. — Hierhin gehören auch die geistvollen ple_190.042 Betrachtungen bei Richard Wagner, Oper und Drama. Zweiter Teil (Gesammelte ple_190.043 Schriften und Dichtungen, 4. Band3 S. 31 ff.). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0204" n="190"/><lb n="ple_190.001"/> sie gesprochen haben, lebendiger Teilnahme gewiß. Endlich kommt hinzu, <lb n="ple_190.002"/> daß der Stoff, eben weil er nicht an bestimmte geschichtliche oder soziale <lb n="ple_190.003"/> Voraussetzungen gebunden ist, eine nahezu unbegrenzte Bildsamkeit besitzt <lb n="ple_190.004"/> und jeder Weiterführung, jeder Neuschöpfung des Dichters freiesten Spielraum <lb n="ple_190.005"/> gibt, ja auch für diese das Interesse des Publikums gewissermaßen <lb n="ple_190.006"/> im voraus sichert.</p> <p><lb n="ple_190.007"/> Es ist daher begreiflich, wenn neuere Dichter es als schmerzlichen <lb n="ple_190.008"/> Nachteil empfunden haben, daß ihnen nicht vergönnt war, aus dem Quellenreichtum <lb n="ple_190.009"/> eines nationalen Mythos zu schöpfen, daß ihnen die Wirkung auf <lb n="ple_190.010"/> ihr Volk durch das Fehlen eines solchen erschwert wurde. Diese Empfindung <lb n="ple_190.011"/> war es zum Teil, was unsere klassischen Dichter immer wieder zum <lb n="ple_190.012"/> Griechentum und seiner Poesie zurückzog; und die Romantiker träumten <lb n="ple_190.013"/> davon, aus modernen Naturanschauungen heraus eine neue Mythologie <lb n="ple_190.014"/> zu schaffen, die ihnen und ihren Nachfahren die Quelle einer neuen dichterischen <lb n="ple_190.015"/> Entwicklung werden sollte.<note xml:id="ple_190_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_190.041"/><hi rendition="#k">R. Haym,</hi> Romantische Schule S. 648, 692. — Hierhin gehören auch die geistvollen <lb n="ple_190.042"/> Betrachtungen bei <hi rendition="#k">Richard Wagner,</hi> Oper und Drama. Zweiter Teil (Gesammelte <lb n="ple_190.043"/> Schriften und Dichtungen, 4. Band<hi rendition="#sup">3</hi> S. 31 ff.).</note> </p> <p><lb n="ple_190.016"/> Dennoch ist nicht allein der Gedanke, einen Mythos künstlich zu <lb n="ple_190.017"/> produzieren, in sich widersprechend und unmöglich, sondern auch das <lb n="ple_190.018"/> Zurückgreifen auf den alten, wenn er einmal abgestorben und nur literarisch <lb n="ple_190.019"/> überliefert ist, erweist sich schwieriger und weniger fruchtbar, als <lb n="ple_190.020"/> man nach den zahlreichen Versuchen, die seit der Renaissance dazu gemacht <lb n="ple_190.021"/> worden sind, annehmen sollte. Nicht nur, daß jene Vorteile, die <lb n="ple_190.022"/> aus dem nationalen Charakter des Mythos entspringen, naturgemäß verloren <lb n="ple_190.023"/> gehen, sobald er zu fremden Völkern übertragen wird; es liegt auch <lb n="ple_190.024"/> in seinem allgemeinen Wesen begründet, daß seine Stoffe den Bedürfnissen <lb n="ple_190.025"/> der modernen Dichtung nur in sehr eingeschränktem Maße entgegenkommen. <lb n="ple_190.026"/> Der Vorzug, den diese Stoffe an sich besitzen, ist vor <lb n="ple_190.027"/> allem die Großzügigkeit des Geschehens, das sich durchweg um außerordentliche <lb n="ple_190.028"/> Taten und Ereignisse, um Leben und Tod, Herrschaft oder <lb n="ple_190.029"/> Knechtschaft, vererbten Fluch und seine Lösung bewegt. Diese großzügige <lb n="ple_190.030"/> Bedeutsamkeit erregt nicht nur ein unmittelbares Interesse an der Handlung, <lb n="ple_190.031"/> sondern erleichtert es dem Dichter auch, seine Darstellung in das <lb n="ple_190.032"/> Licht des Typischen zu erheben. Dagegen fehlt dem Mythos fast durchweg <lb n="ple_190.033"/> jeder tiefere psychologische Gehalt, ja es liegt in seiner Natur, daß er <lb n="ple_190.034"/> einer seelischen Vertiefung oder Verfeinerung im allgemeinen gar nicht <lb n="ple_190.035"/> fähig ist. Eben jene gewaltigen Gegensätze, die in übermenschlichen <lb n="ple_190.036"/> Zügen und machtvollen Eindrücken zu unserer Phantasie sprechen, entziehen <lb n="ple_190.037"/> sich einem eindringenderen psychologischen Verständnis, und die <lb n="ple_190.038"/> typische Natur der Handlungen und Charaktere verhält sich jeder Individualisierung <lb n="ple_190.039"/> gegenüber spröde. Die oft hervorgehobene Tatsache, daß <lb n="ple_190.040"/> die Dramatik der Alten zu einer individuellen Charakteristik nicht gelangt </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [190/0204]
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sie gesprochen haben, lebendiger Teilnahme gewiß. Endlich kommt hinzu, ple_190.002
daß der Stoff, eben weil er nicht an bestimmte geschichtliche oder soziale ple_190.003
Voraussetzungen gebunden ist, eine nahezu unbegrenzte Bildsamkeit besitzt ple_190.004
und jeder Weiterführung, jeder Neuschöpfung des Dichters freiesten Spielraum ple_190.005
gibt, ja auch für diese das Interesse des Publikums gewissermaßen ple_190.006
im voraus sichert.
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Es ist daher begreiflich, wenn neuere Dichter es als schmerzlichen ple_190.008
Nachteil empfunden haben, daß ihnen nicht vergönnt war, aus dem Quellenreichtum ple_190.009
eines nationalen Mythos zu schöpfen, daß ihnen die Wirkung auf ple_190.010
ihr Volk durch das Fehlen eines solchen erschwert wurde. Diese Empfindung ple_190.011
war es zum Teil, was unsere klassischen Dichter immer wieder zum ple_190.012
Griechentum und seiner Poesie zurückzog; und die Romantiker träumten ple_190.013
davon, aus modernen Naturanschauungen heraus eine neue Mythologie ple_190.014
zu schaffen, die ihnen und ihren Nachfahren die Quelle einer neuen dichterischen ple_190.015
Entwicklung werden sollte. 1)
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Dennoch ist nicht allein der Gedanke, einen Mythos künstlich zu ple_190.017
produzieren, in sich widersprechend und unmöglich, sondern auch das ple_190.018
Zurückgreifen auf den alten, wenn er einmal abgestorben und nur literarisch ple_190.019
überliefert ist, erweist sich schwieriger und weniger fruchtbar, als ple_190.020
man nach den zahlreichen Versuchen, die seit der Renaissance dazu gemacht ple_190.021
worden sind, annehmen sollte. Nicht nur, daß jene Vorteile, die ple_190.022
aus dem nationalen Charakter des Mythos entspringen, naturgemäß verloren ple_190.023
gehen, sobald er zu fremden Völkern übertragen wird; es liegt auch ple_190.024
in seinem allgemeinen Wesen begründet, daß seine Stoffe den Bedürfnissen ple_190.025
der modernen Dichtung nur in sehr eingeschränktem Maße entgegenkommen. ple_190.026
Der Vorzug, den diese Stoffe an sich besitzen, ist vor ple_190.027
allem die Großzügigkeit des Geschehens, das sich durchweg um außerordentliche ple_190.028
Taten und Ereignisse, um Leben und Tod, Herrschaft oder ple_190.029
Knechtschaft, vererbten Fluch und seine Lösung bewegt. Diese großzügige ple_190.030
Bedeutsamkeit erregt nicht nur ein unmittelbares Interesse an der Handlung, ple_190.031
sondern erleichtert es dem Dichter auch, seine Darstellung in das ple_190.032
Licht des Typischen zu erheben. Dagegen fehlt dem Mythos fast durchweg ple_190.033
jeder tiefere psychologische Gehalt, ja es liegt in seiner Natur, daß er ple_190.034
einer seelischen Vertiefung oder Verfeinerung im allgemeinen gar nicht ple_190.035
fähig ist. Eben jene gewaltigen Gegensätze, die in übermenschlichen ple_190.036
Zügen und machtvollen Eindrücken zu unserer Phantasie sprechen, entziehen ple_190.037
sich einem eindringenderen psychologischen Verständnis, und die ple_190.038
typische Natur der Handlungen und Charaktere verhält sich jeder Individualisierung ple_190.039
gegenüber spröde. Die oft hervorgehobene Tatsache, daß ple_190.040
die Dramatik der Alten zu einer individuellen Charakteristik nicht gelangt
1) ple_190.041
R. Haym, Romantische Schule S. 648, 692. — Hierhin gehören auch die geistvollen ple_190.042
Betrachtungen bei Richard Wagner, Oper und Drama. Zweiter Teil (Gesammelte ple_190.043
Schriften und Dichtungen, 4. Band3 S. 31 ff.).
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