Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_182.001 15. Das Verhältnis der Gattungen zueinander. Zwischenformen. ple_182.002 ple_182.036 1) ple_182.040
So z. B. F. Gregory in einem Aufsatz, der mancherlei Beachtenswertes enthält ple_182.041 (Wesen und Wirken der Lyrik. Österreichische Rundschau Bd. II S. 406, 407): "Die ple_182.042 schulmäßige Dreiteilung der Poesie ist ein armseliger Notbehelf aus Bequemlichkeitsrücksichten." ple_182.001 15. Das Verhältnis der Gattungen zueinander. Zwischenformen. ple_182.002 ple_182.036 1) ple_182.040
So z. B. F. Gregory in einem Aufsatz, der mancherlei Beachtenswertes enthält ple_182.041 (Wesen und Wirken der Lyrik. Österreichische Rundschau Bd. II S. 406, 407): „Die ple_182.042 schulmäßige Dreiteilung der Poesie ist ein armseliger Notbehelf aus Bequemlichkeitsrücksichten.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0196" n="182"/> </div> <div n="3"> <head> <lb n="ple_182.001"/> <hi rendition="#b">15. Das Verhältnis der Gattungen zueinander. Zwischenformen.</hi> </head> <p><lb n="ple_182.002"/> Mit dem Unterschied der drei Gattungen ist zweifellos eine wesentliche <lb n="ple_182.003"/> Verschiedenheit der formenbildenden Dichterphantasie, ihrer Schöpfungen <lb n="ple_182.004"/> und Wirkungen gegeben, und die klassifizierende Poetik verfuhr nicht <lb n="ple_182.005"/> ohne Fug und Recht, wenn sie diese Verschiedenheit ihren Einteilungen <lb n="ple_182.006"/> zugrunde legte. Allerdings wird nicht jedes Gedicht restlos in einer der <lb n="ple_182.007"/> drei Gattungen unterzubringen sein; vielmehr werden die meisten größeren <lb n="ple_182.008"/> Dichtungen epischer und besonders dramatischer Art Stellen enthalten, <lb n="ple_182.009"/> die den Charakter einer der beiden anderen Gattungen tragen. Doch es <lb n="ple_182.010"/> wäre falsch, aus diesem Grunde dem Gattungsunterschied überhaupt die <lb n="ple_182.011"/> Bedeutung abzusprechen, wie das neuerdings bisweilen geschehen ist.<note xml:id="ple_182_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_182.040"/> So z. B. F. Gregory in einem Aufsatz, der mancherlei Beachtenswertes enthält <lb n="ple_182.041"/> (Wesen und Wirken der Lyrik. Österreichische Rundschau Bd. II S. 406, 407): „Die <lb n="ple_182.042"/> schulmäßige Dreiteilung der Poesie ist ein armseliger Notbehelf aus Bequemlichkeitsrücksichten.“</note> <lb n="ple_182.043"/> <lb n="ple_182.012"/> In der klassischen Poetik freilich tritt uns die umgekehrte Übertreibung <lb n="ple_182.013"/> entgegen. Wenn wir in Schillers und Goethes Briefwechsel sehen, mit <lb n="ple_182.014"/> welcher skrupulösen Gewissenhaftigkeit beide Dichter auf die Reinheit der <lb n="ple_182.015"/> Gattung achten, wie etwa Goethe den Modernen den Vorwurf macht, „daß <lb n="ple_182.016"/> sie die Genres zu sehr zu vermischen geneigt sind“ und als ein Beispiel <lb n="ple_182.017"/> dafür sein eigenes Gedicht Hermann und Dorothea anführt, das sich „von <lb n="ple_182.018"/> der Epopöe entfernt und dem Drama annähert“, wenn man andrerseits sieht, <lb n="ple_182.019"/> welche Mühe sich Wilhelm v. Humboldt gibt, um gerade im Gegenteil <lb n="ple_182.020"/> nachzuweisen, daß das Goethesche Epos genau den Begriff seiner Gattung <lb n="ple_182.021"/> erfüllt, so bemerkt man, daß hier eine übertriebene, ja falsche Vorstellung <lb n="ple_182.022"/> von der Bedeutung und dem Werte der Gattungsunterschiede zugrunde <lb n="ple_182.023"/> liegt. In der Tat ist es offenbar, daß die klassische Poetik, von Lessings <lb n="ple_182.024"/> Streit um die Tragödie bis auf Humboldts Erörterungen über die epische <lb n="ple_182.025"/> Poesie, den einzelnen Dichtungsarten spezifische Wirkungen zuschreibt, <lb n="ple_182.026"/> die sie nicht nur formal, sondern auch dem Inhalt und der ethischen <lb n="ple_182.027"/> Bedeutung nach voneinander unterscheiden sollen. Charakteristisch ist <lb n="ple_182.028"/> z. B. der Satz bei Humboldt (a. a. O. S. 240): „Unter allen Dichtern steht <lb n="ple_182.029"/> der epische auf dem höchsten Standpunkt und genießt der weitesten Aussicht, <lb n="ple_182.030"/> und unter allen Dichtungsarten ist die epische am meisten fähig, den <lb n="ple_182.031"/> Menschen mit dem Leben zu versöhnen und ihn für das Leben tauglich <lb n="ple_182.032"/> zu machen.“ Wie sonderbar liest sich diese Behauptung für uns, die wir <lb n="ple_182.033"/> Goethes Faust bis zum Abschluß kennen und damit nicht in Zweifel sein <lb n="ple_182.034"/> können, welcher Gattung das Gedicht angehört, von dem die Wirkung, <lb n="ple_182.035"/> die Humboldt schildert, am stärksten und allgemeinsten ausgeht!</p> <p><lb n="ple_182.036"/> Wie das übertriebene Gewicht, das auf die Bedeutung der Gattungsunterschiede <lb n="ple_182.037"/> gelegt wurde, so entspringt auch die Frage, welche Gattung <lb n="ple_182.038"/> die zeitlich erste gewesen sei, einer irrtümlichen Auffassung. Zwar auch <lb n="ple_182.039"/> heute noch hört man die Behauptung nicht selten, daß alle Poesie mit </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [182/0196]
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15. Das Verhältnis der Gattungen zueinander. Zwischenformen. ple_182.002
Mit dem Unterschied der drei Gattungen ist zweifellos eine wesentliche ple_182.003
Verschiedenheit der formenbildenden Dichterphantasie, ihrer Schöpfungen ple_182.004
und Wirkungen gegeben, und die klassifizierende Poetik verfuhr nicht ple_182.005
ohne Fug und Recht, wenn sie diese Verschiedenheit ihren Einteilungen ple_182.006
zugrunde legte. Allerdings wird nicht jedes Gedicht restlos in einer der ple_182.007
drei Gattungen unterzubringen sein; vielmehr werden die meisten größeren ple_182.008
Dichtungen epischer und besonders dramatischer Art Stellen enthalten, ple_182.009
die den Charakter einer der beiden anderen Gattungen tragen. Doch es ple_182.010
wäre falsch, aus diesem Grunde dem Gattungsunterschied überhaupt die ple_182.011
Bedeutung abzusprechen, wie das neuerdings bisweilen geschehen ist. 1) ple_182.043
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In der klassischen Poetik freilich tritt uns die umgekehrte Übertreibung ple_182.013
entgegen. Wenn wir in Schillers und Goethes Briefwechsel sehen, mit ple_182.014
welcher skrupulösen Gewissenhaftigkeit beide Dichter auf die Reinheit der ple_182.015
Gattung achten, wie etwa Goethe den Modernen den Vorwurf macht, „daß ple_182.016
sie die Genres zu sehr zu vermischen geneigt sind“ und als ein Beispiel ple_182.017
dafür sein eigenes Gedicht Hermann und Dorothea anführt, das sich „von ple_182.018
der Epopöe entfernt und dem Drama annähert“, wenn man andrerseits sieht, ple_182.019
welche Mühe sich Wilhelm v. Humboldt gibt, um gerade im Gegenteil ple_182.020
nachzuweisen, daß das Goethesche Epos genau den Begriff seiner Gattung ple_182.021
erfüllt, so bemerkt man, daß hier eine übertriebene, ja falsche Vorstellung ple_182.022
von der Bedeutung und dem Werte der Gattungsunterschiede zugrunde ple_182.023
liegt. In der Tat ist es offenbar, daß die klassische Poetik, von Lessings ple_182.024
Streit um die Tragödie bis auf Humboldts Erörterungen über die epische ple_182.025
Poesie, den einzelnen Dichtungsarten spezifische Wirkungen zuschreibt, ple_182.026
die sie nicht nur formal, sondern auch dem Inhalt und der ethischen ple_182.027
Bedeutung nach voneinander unterscheiden sollen. Charakteristisch ist ple_182.028
z. B. der Satz bei Humboldt (a. a. O. S. 240): „Unter allen Dichtern steht ple_182.029
der epische auf dem höchsten Standpunkt und genießt der weitesten Aussicht, ple_182.030
und unter allen Dichtungsarten ist die epische am meisten fähig, den ple_182.031
Menschen mit dem Leben zu versöhnen und ihn für das Leben tauglich ple_182.032
zu machen.“ Wie sonderbar liest sich diese Behauptung für uns, die wir ple_182.033
Goethes Faust bis zum Abschluß kennen und damit nicht in Zweifel sein ple_182.034
können, welcher Gattung das Gedicht angehört, von dem die Wirkung, ple_182.035
die Humboldt schildert, am stärksten und allgemeinsten ausgeht!
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Wie das übertriebene Gewicht, das auf die Bedeutung der Gattungsunterschiede ple_182.037
gelegt wurde, so entspringt auch die Frage, welche Gattung ple_182.038
die zeitlich erste gewesen sei, einer irrtümlichen Auffassung. Zwar auch ple_182.039
heute noch hört man die Behauptung nicht selten, daß alle Poesie mit
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So z. B. F. Gregory in einem Aufsatz, der mancherlei Beachtenswertes enthält ple_182.041
(Wesen und Wirken der Lyrik. Österreichische Rundschau Bd. II S. 406, 407): „Die ple_182.042
schulmäßige Dreiteilung der Poesie ist ein armseliger Notbehelf aus Bequemlichkeitsrücksichten.“
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