Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_178.001 ple_178.005 ple_178.011 ple_178.021 1) ple_178.038 H. Bulthaupt, Dramaturgie des Schauspiels. 4. Bde. Oldenburg und Leipzig, ple_178.039 zul. 1902-4. 2) ple_178.040
Poetik Kap. 6: Die Tragödie ist eine nachahmende Darstellung nicht von Personen, ple_178.041 sondern von Handlungen und Leben. -- Und somit hat denn der tragische Dichter ple_178.042 nicht handelnde Personen einzuführen, um ihre Charaktere zur Darstellung zu bringen, ple_178.043 sondern in und mit der Handlung auch die Charaktere zu umfassen. Folglich sind die ple_178.001 ple_178.005 ple_178.011 ple_178.021 1) ple_178.038 H. Bulthaupt, Dramaturgie des Schauspiels. 4. Bde. Oldenburg und Leipzig, ple_178.039 zul. 1902–4. 2) ple_178.040
Poetik Kap. 6: Die Tragödie ist eine nachahmende Darstellung nicht von Personen, ple_178.041 sondern von Handlungen und Leben. — Und somit hat denn der tragische Dichter ple_178.042 nicht handelnde Personen einzuführen, um ihre Charaktere zur Darstellung zu bringen, ple_178.043 sondern in und mit der Handlung auch die Charaktere zu umfassen. Folglich sind die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0192" n="178"/><lb n="ple_178.001"/> schwerlich gleich wirksam sein würde. Nur in den späteren Dramen, die <lb n="ple_178.002"/> mit nachlassender Kraft geschrieben sind, besonders in John Gabriel Borckmann, <lb n="ple_178.003"/> fehlt die zwingende Kraft, mit der die Vergangenheit lebendig wird, <lb n="ple_178.004"/> und damit bleibt die dramatische Wirkung aus.</p> <p><lb n="ple_178.005"/> Diese souveräne Technik nun aber ist Ibsen so eigentümlich, wie <lb n="ple_178.006"/> Richard Wagner die seinige, und nur durch ein ebenso singuläres Zusammentreffen <lb n="ple_178.007"/> epischer und dramatischer Begabung zu erklären wie Wagners Kunst <lb n="ple_178.008"/> aus der musikalisch dramatischen. So bleiben die beiden Dichter, die dem <lb n="ple_178.009"/> modernen Drama nach zwei verschiedenen Seiten hin die stärkste Steigerung <lb n="ple_178.010"/> verliehen haben, notwendig Einzelerscheinungen.</p> <p><lb n="ple_178.011"/> Der Unterschied zwischen Entwicklungs- und Enthüllungsdrama, wenn <lb n="ple_178.012"/> diese Ausdrücke gestattet sind, gibt uns Veranlassung, die Kompositionsformen <lb n="ple_178.013"/> des Dramas überhaupt einer kurzen Betrachtung zu unterziehen. <lb n="ple_178.014"/> Auf die technischen Einzelheiten freilich können wir nicht eingehen, sie <lb n="ple_178.015"/> gehören in die spezielle Dramaturgie, und man mag sich darüber aus G. <lb n="ple_178.016"/> <hi rendition="#g">Freytags</hi> Technik des Dramas oder in speziellerer Fassung aus <hi rendition="#g">Bulthaupts</hi> <lb n="ple_178.017"/> Dramaturgie<note xml:id="ple_178_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_178.038"/><hi rendition="#k">H. Bulthaupt,</hi> Dramaturgie des Schauspiels. 4. Bde. Oldenburg und Leipzig, <lb n="ple_178.039"/> zul. 1902–4.</note> orientieren. Wohl aber müssen wir uns über die Verschiedenheit <lb n="ple_178.018"/> der künstlerischen Grundrichtung klar werden, welche für die Entwicklung <lb n="ple_178.019"/> der modernen dramatischen Form von entscheidender Bedeutung <lb n="ple_178.020"/> geworden ist.</p> <p><lb n="ple_178.021"/> Jede wahrhaft dramatische Dichtung (wenn auch, wie wir sahen, nicht <lb n="ple_178.022"/> jedes Bühnenstück) geht ihrem Wesen nach darauf aus, eine Handlung <lb n="ple_178.023"/> darzustellen, an der sich die Charaktere der Personen offenbaren. Die Verkettung <lb n="ple_178.024"/> zwischen Charakter, Taten und Leiden bilden ein für allemal die <lb n="ple_178.025"/> innere Form jeder dramatischen Entwicklung. Ist dem nun so, und der <lb n="ple_178.026"/> gesamte Verlauf unserer bisherigen Betrachtung hat es erwiesen, so erscheint <lb n="ple_178.027"/> es müssig zu fragen, was für die Tragödie wichtiger sei, die Handlungen <lb n="ple_178.028"/> oder die Charaktere. Gleichwohl hat bereits Aristoteles im sechsten Kapitel <lb n="ple_178.029"/> der Poetik diese Frage diskutiert, und sie hat für die Entwicklung des <lb n="ple_178.030"/> neueren Dramas, besonders aber für den Kampf um die deutsche Tragödie, <lb n="ple_178.031"/> der im 18. Jahrhundert hauptsächlich von Lessing geführt worden ist, eine <lb n="ple_178.032"/> geschichtliche Bedeutung. Ein Gegensatz der ästhetischen Auffassung, der <lb n="ple_178.033"/> zu gleicher Zeit ein solcher des nationalen künstlerischen Geistes ist, tritt <lb n="ple_178.034"/> darin hervor. Aristoteles erklärt sehr entschieden, daß auf Handlung und <lb n="ple_178.035"/> Komposition mehr Gewicht zu legen sei, als auf die Charakteristik, ja, er <lb n="ple_178.036"/> behauptet, ohne Handlung könne es keine Tragödie geben, wohl aber ohne <lb n="ple_178.037"/> ausgeführte Charaktere.<note xml:id="ple_178_2a" n="2)" place="foot" next="#ple_178_2b"><lb n="ple_178.040"/> Poetik Kap. 6: Die Tragödie ist eine nachahmende Darstellung nicht von Personen, <lb n="ple_178.041"/> sondern von Handlungen und Leben. — Und somit hat denn der tragische Dichter <lb n="ple_178.042"/> nicht handelnde Personen einzuführen, um ihre Charaktere zur Darstellung zu bringen, <lb n="ple_178.043"/> sondern in und mit der Handlung auch die Charaktere zu umfassen. Folglich sind die</note> Was hier zum Ausdruck kommt, ist offenbar ein </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [178/0192]
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schwerlich gleich wirksam sein würde. Nur in den späteren Dramen, die ple_178.002
mit nachlassender Kraft geschrieben sind, besonders in John Gabriel Borckmann, ple_178.003
fehlt die zwingende Kraft, mit der die Vergangenheit lebendig wird, ple_178.004
und damit bleibt die dramatische Wirkung aus.
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Diese souveräne Technik nun aber ist Ibsen so eigentümlich, wie ple_178.006
Richard Wagner die seinige, und nur durch ein ebenso singuläres Zusammentreffen ple_178.007
epischer und dramatischer Begabung zu erklären wie Wagners Kunst ple_178.008
aus der musikalisch dramatischen. So bleiben die beiden Dichter, die dem ple_178.009
modernen Drama nach zwei verschiedenen Seiten hin die stärkste Steigerung ple_178.010
verliehen haben, notwendig Einzelerscheinungen.
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Der Unterschied zwischen Entwicklungs- und Enthüllungsdrama, wenn ple_178.012
diese Ausdrücke gestattet sind, gibt uns Veranlassung, die Kompositionsformen ple_178.013
des Dramas überhaupt einer kurzen Betrachtung zu unterziehen. ple_178.014
Auf die technischen Einzelheiten freilich können wir nicht eingehen, sie ple_178.015
gehören in die spezielle Dramaturgie, und man mag sich darüber aus G. ple_178.016
Freytags Technik des Dramas oder in speziellerer Fassung aus Bulthaupts ple_178.017
Dramaturgie 1) orientieren. Wohl aber müssen wir uns über die Verschiedenheit ple_178.018
der künstlerischen Grundrichtung klar werden, welche für die Entwicklung ple_178.019
der modernen dramatischen Form von entscheidender Bedeutung ple_178.020
geworden ist.
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Jede wahrhaft dramatische Dichtung (wenn auch, wie wir sahen, nicht ple_178.022
jedes Bühnenstück) geht ihrem Wesen nach darauf aus, eine Handlung ple_178.023
darzustellen, an der sich die Charaktere der Personen offenbaren. Die Verkettung ple_178.024
zwischen Charakter, Taten und Leiden bilden ein für allemal die ple_178.025
innere Form jeder dramatischen Entwicklung. Ist dem nun so, und der ple_178.026
gesamte Verlauf unserer bisherigen Betrachtung hat es erwiesen, so erscheint ple_178.027
es müssig zu fragen, was für die Tragödie wichtiger sei, die Handlungen ple_178.028
oder die Charaktere. Gleichwohl hat bereits Aristoteles im sechsten Kapitel ple_178.029
der Poetik diese Frage diskutiert, und sie hat für die Entwicklung des ple_178.030
neueren Dramas, besonders aber für den Kampf um die deutsche Tragödie, ple_178.031
der im 18. Jahrhundert hauptsächlich von Lessing geführt worden ist, eine ple_178.032
geschichtliche Bedeutung. Ein Gegensatz der ästhetischen Auffassung, der ple_178.033
zu gleicher Zeit ein solcher des nationalen künstlerischen Geistes ist, tritt ple_178.034
darin hervor. Aristoteles erklärt sehr entschieden, daß auf Handlung und ple_178.035
Komposition mehr Gewicht zu legen sei, als auf die Charakteristik, ja, er ple_178.036
behauptet, ohne Handlung könne es keine Tragödie geben, wohl aber ohne ple_178.037
ausgeführte Charaktere. 2) Was hier zum Ausdruck kommt, ist offenbar ein
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H. Bulthaupt, Dramaturgie des Schauspiels. 4. Bde. Oldenburg und Leipzig, ple_178.039
zul. 1902–4.
2) ple_178.040
Poetik Kap. 6: Die Tragödie ist eine nachahmende Darstellung nicht von Personen, ple_178.041
sondern von Handlungen und Leben. — Und somit hat denn der tragische Dichter ple_178.042
nicht handelnde Personen einzuführen, um ihre Charaktere zur Darstellung zu bringen, ple_178.043
sondern in und mit der Handlung auch die Charaktere zu umfassen. Folglich sind die
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